Boris Becker im Restaurant San Lorenzo in Wimbledon

Boris Becker im Interview: „Ich sehe Dinge, die keiner sieht“

Premiere: In Wimbledon gelingt Boris Becker der erste Grand Slam-Titel mit Novak  Djokovic. Im Interview spricht er über das Geheimnis des Erfolgs, das veränderte Spiel seines Schützlings, den eigenen Tunnelblick und – natürlich – sein Image.

San Lorenzo in Wimbledon. Der In-Italiener. Während des Turniers gehen sie hier, in der Hill Street 38, alle essen – Stars wie Sharapova und Dimitrov, Ex-Stars wie Evert und McEnroe. An den Wänden hängen handsignierte Bilder von Stan Smith und Ilie Nastase. Boris Becker hängt auch an der Wand. Als Teenie. „In keinem anderen Restaurant der Welt habe ich so oft gegessen“, sagt er. Heute speisen wir auch – ein Lunch mit Boris Becker. Er bekommt zur Begrüßung einen Prosecco. Er bestellt Pizza Piccante, Bistecca, leichten Rotwein und stilles Wasser.

 

Herr Becker, das San Lorenzo gehört für Sie zu Wimbledon wie der Centre Court. Waren Sie mit Novak Djokovic auch hier?
Ja, wir haben uns hier das WM-Spiel Deutschland gegen die USA angesehen. Wir waren zu zehnt – das ganze Team.

Inwiefern war es für Djokovic hilfreich, dass Sie ein Heimspiel in Wimbledon hatten?
Ich möchte eins vorweg schicken: Novak ist derjenige, der spielt, nicht ich. Er hat dieses Turnier schon vorher gewonnen. Er ist Mitglied im Club. Der Unterschied zu mir ist: Ich lebe in Wimbledon und verfüge über das sogenannte „local knowledge“. Ich bewege mich seit 30 Jahren in diesem Umfeld. Sicherlich kenne ich Orte in Wimbledon, die Novak unbekannt waren: Trainingsplätze, Restaurants, Rückzugsorte. Wenn wir beispielsweise nach einem Match in Chelsea in einen Spa oder Gym gehen wollten, dann wusste ich, wie wir in 15 statt in 45 Minuten ans Ziel kommen.

Und auf dem Centre Court kennen Sie immer noch jeden Grashalm?
Das mag sein, aber das hat uns keinen Vorteil gebracht. Allerdings gibt es Grundregeln auf Rasen. Wohin spiele ich den ersten Volley? Wo ist meine genaue Position auf dem Platz? Wo ist es dunkler? Wo ist es rutschig? Heute spielen die Profis weniger am Netz. Das Aufschlagfeld ist grüner, also rutschiger im Vergleich zu meiner Zeit. Dafür ist die Grundlinie abgespielter. An diese Bedingungen muss man sich anpassen.

Djokovic gilt als Perfektionist. Ist das generell ein Nachteil auf Rasen, weil Bälle verspringen und man intuitiv handeln muss?
Alle Grand Slam-Sieger haben den Drang nach Perfektion. Auf Sand verspringt ein Ball auch mal. Der Spieler muss dann reagieren. Novak kann das, wie man gesehen hat, genau wie Federer und Nadal. Aber Sie haben Recht: Novak ist von Haus aus Perfektionist. Er überlässt nichts dem Zufall. Aber er weiß auch: Was im Match passiert, kann man nicht immer kontrollieren.

Was macht ihn für Sie besonders?
Er ist der erste Spieler, der in eine Zwei-Mann-WG eingebrochen ist. Tennis wurde viele Jahre von Federer und Nadal kontrolliert, nicht nur auf dem Platz, sondern auch politisch. Beide verfügen über ein wahres Powerpaket:  derselbe Sportartikelhersteller, früher dieselbe Vermarktungsagentur. Novak ist es gelungen, einzig mit Talent und Leistung in die Weltspitze vorzudringen. Und nicht nur das: Er wurde die Nummer eins, er nahm Federer und Nadal Grand Slam-Titel weg. Keinem anderen gelang das zuvor. Ich sehe Novak als Spieler aus dem Volk. Er hat gezeigt, dass man, wenn man gut genug ist, etwas verändern kann.

Als Djokovic Sie Ende letzten Jahres als Trainer verpflichtete, wurde viel gerätselt. Einige vermuteten sogar, er, der Osteuropäer, habe Sie ins Team geholt, um mehr Öffentlichkeit und damit bessere Sponsorenverträge zu bekommen.
Ich beteilige mich nicht an Spekulationen. Ein Trainer wird verpflichtet, um einen Spieler besser zu machen. Es geht um sportlichen Erfolg. Das ist auch beim Team Djokovic/Becker die Motivation. Wenn dann weitere Sponsoren auf Novak aufmerksam werden, wird er nichts dagegen haben.

Es gibt kaum einen Spieler, der so erfolgreich in Wimbledon war wie Sie. Hatte Djokovic Sie vor allem verpflichtet, um dieses Turnier zu gewinnen?
Er hatte Wimbledon bekanntlich bereits vorher gewonnen. Unser Ziel ist es nun, Novak langfristig zur Nummer eins zu machen. Um das zu schaffen, reicht nur meine Wimbledon-Erfahrung nicht aus. Der eine oder andere vergisst gerne mal, dass sich meine Expertise auf die komplette Tour erstreckt. Mittlerweile sogar in den unterschiedlichsten Funktionen – als Spieler, Manager, Coach und sogar TV-Kommentator. Mit diesem Wissen versuche ich, meinen Teil dazu beizutragen, Novak noch besser zu machen.

Was macht Ihre Zusammenarbeit speziell?
Es gibt nicht das große Geheimnis. Ehemalige Champions wie Edberg, Lendl oder ich haben über Jahrzehnte in verschiedenen Rollen gezeigt, dass wir uns in dem Sport sehr gut auskennen. Wenn ich mit Novak über Tennis rede, dann hört jeder im Team staunend zu. Novak und ich haben die gleichen Situationen auf dem Platz erlebt. Das sind Momente, die man nicht erklären kann, sondern die man gelebt haben muss. Es macht mir großen Spaß, mit Novak über Tennis zu reden, weil er genau weiß, was ich meine und ich weiß, was er empfindet. Diese Augenhöhe ist selten im Tennissport. Deshalb ist das ein spannendes Doppel.

Zu Beginn des Jahres coachten Sie Djokovic alleine. Dann kehrte Ihr Vorgänger Marian Vajda ins Team zurück, war in Wimbledon aber nicht dabei. Wie ist die aktuelle Aufgabenteilung?
Marian Vajda war nie weg. Er ist ein ganz wichtiger Teil des Teams, nicht nur als Trainer, sondern auch als Mensch. Er ist ein enger Freund von Novak, ein Freund der Familie. Keiner kennt Novak so gut wie Marian, der immer eine wichtige Rolle spielen wird. Ein Spitzensportler hat nicht nur einen Guru, der alles bestimmt, sondern viele. Gebhard Gritsch, Novaks Konditionstrainer, weiß Dinge, die ich noch nie gehört habe. Der ist nicht austauschbar. Miljan Amanovic ist vielleicht Novaks engster Freund und ein unglaublicher Physiotherapeut. Er kennt seinen Körper besser als irgendjemand sonst. Ich hatte meinen Masseur 15 Jahre. Für einen Athleten ist der Physio eine ganz enge Bezugsperson. Ohne ihn kann ein Tennisprofi nicht spielen. Jeder im Team hat eine ganz entscheidende Rolle

Welche ist Ihre?
Meine Rolle ist, mit Novak über Situationen zu reden, in denen ich als Profi war – in Wimbledon, bei den US Open, beim Davis Cup. Wenn du das nicht selbst erlebt hast, fehlt die Glaubwürdigkeit.

Sie sind der Headcoach.
Der Titel interessiert mich null. Man muss dem Kind einen Namen geben. Am Ende entscheide ich, wie der Trainingsplan aussieht, wie lange Novak aufs Fahrrad geht oder ob er schwimmt. Aber ich entscheide nichts ohne Gebhard oder Milan. Das ist keine One-Man-Show Boris Becker.

Wie weit geht Ihre Rolle? Buchen Sie Trainingsplätze, besorgen Sie Bälle?
Jeden Tag.

Boris Becker im Restaurant San Lorenzo in Wimbledon

TALK BEIM LUNCH: tennis MAGAZIN-Vize Andrej Antic und Boris Becker.

Ihre Kritiker urteilen, Becker könne sich nicht zurücknehmen. Sein Ego sei groß. Er dränge ins Rampenlicht. Haben Sie sich verändert?
Das müssen andere beurteilen. Ich beschäftige mich auch nicht mit der Frage. Auffällig ist, dass ich in Deutschland komplett anders gesehen werde als im Rest der Welt. Warum das so ist, kann ich nicht genau erklären. Klar, ich habe Fehler gemacht, wie jeder von uns. Interessanterweise aber gehen beispielsweise Engländer, Amerikaner oder Franzosen ganz anders mit meiner Person um.

Was stört Sie an Deutschland?
Mich stört nichts an Deutschland. Ich bin Patriot. Aber ich ärgere mich über verletzende, falsche Berichte, auch in Ihrem Magazin. Mein Leben ist nun einmal extrem. Ich bekomme vieles, aber ich muss auch vieles geben und ertragen. Im Ausland werde ich so akzeptiert wie ich heute bin und früher als Tennisspieler war. Ich spüre eine ehrliche Wertschätzung für das, was ich tue und was ich getan habe. In Deutschland habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Glas bezüglich Boris Becker immer halbleer und nie halbvoll ist. Das muss ich so akzeptieren, aber es ist schade.

Was ist Ihr Ziel mit Novak Djokovic? Wann sind Sie erfolgreich?
Wie schon gesagt: Das Ziel heißt, ihn langfristig zur Nummer eins zu machen. Er hätte schon in Paris die Spitze übernehmen können. Der Mount Everest wäre schon bestiegen worden. Es hat aber dort noch nicht gereicht und wir haben anschließend noch härter daran gearbeitet. Djokovic und Becker – das ist kein kurzes Intermezzo. Unsere Zusammenarbeit ist langfristig angelegt. Natürlich ist der Erfolg entscheidend. Aber ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, dass Novak heute anders spielt als vor einem halben Jahr?

Um ehrlich zu sein: nein.
Wenn man sich Videos von heute und von vor sechs Monaten ansieht, dann sind das zwei verschiedene Spieler! Aber so lange es Novak und ich sehen und drei, vier andere, reicht uns das. Es muss auch keiner sehen, weil es kaum einer kann. Ich kann auch nicht kochen. Das Entscheidende ist, dass der Spieler mit dem Team zufrieden ist – und das ist hundert­prozentig der Fall. Klar hätten wir gerne Paris gewonnen und uns schon dort in den Armen gelegen. Aber 99 Prozent der Spieler würden sich freuen, wenn sie im Finale gestanden hätten. Das ist das, was ich meine: halbleer – halbvoll.

Verraten Sie uns, was Sie im Spiel von Djokovic verändert haben?
Wenn wir jetzt in die Niederungen von Taktik gehen – die Position auf dem Platz, Tempowechsel, technische Feinheiten – , dann würde dies das Interview sprengen, selbst in einem Fachmagazin wie Ihrem. Das Entscheidende ist, wann er was gegen wen spielt. Das ist das ganze Geheimnis.

Ein bisschen konkreter bitte.
Na schön. Stopps sind ein gutes Mittel, aber es kommt darauf an, wann man sie spielt. Aufschlag ist nicht gleich Aufschlag. Spiele ich ihn auf die Vor- oder Rückhand oder direkt auf den Körper? Bei welchem Spielstand? Bei welchem Gegner? Wohin servierst du im Wimbledonfinale im entscheidenden Moment mit dem zweiten? Hast du den Spielzug vorbereitet? Dann ist das gut. Wenn nicht, ist das Kamikaze. Das sind die Diskussionen, die Novak und ich führen.

Bringen Sie ihm Psychotricks bei?
Psychotricks sind für Hobbyspieler. Es ist viel komplizierter und komplexer. Wir fragen uns eher: Wie geht man mit Stresssituationen um?  Es gibt viele unterschiedliche Schubladen: Psychologie, Technik, Taktik. Ich sage ihm, wenn er zu weit hinter der Grundlinie steht, wenn er die Volleys zu weit oben oder zu weit unten spielt, wenn er mehr Rückhand als Vorhand spielt.

Erkennen Sie in Djokovic den jungen Becker?
Ich sehe ihn als einen sehr mutigen, sehr motivierten, sehr leidenschaftlichen Spieler. Darin gleicht er mir. Er hat vor nichts und niemandem Angst. Egal, wer auf der anderen Seite steht, er will ihn schlagen. Das kann man nicht lernen. Novak hat es mit der Muttermilch aufgesogen. Da spielt seine Historie eine Rolle, seine Familie, der Ort, wo er aufgewachsen ist. Dazu kommen seine Fähigkeiten als Spieler. Diese Kombination macht ihn außergewöhnlich. Wenn Sie ihn mit dem jungen Boris Becker vergleichen wollen – von mir aus. Aber sie könnten auch Edberg, Lendl oder einen anderen Champion nennen.

Was halten Sie von dem Trend, dass so viele Spitzenspieler frühere Champions als Coaches verpflichtet haben ? Federer arbeitet mit Edberg, Nishikori mit Chang, Cilic mit Ivanisevic und Novak mit Ihnen.
Ich halte es für gut. Ich glaube, dass Spieler sehr wohl wissen, was gut für sie ist. Sie entscheiden sehr bewusst. Die Profis werden meiner Meinung nach unterschätzt, weil sie jung sind. Aber sie führen eine ganze Firma mit ihrem Namen. Das ist eine große Aufgabe. Man muss intelligent sein und das nötige Fingerspitzengefühl besitzen.

Es wurde in Wimbledon viel darüber  diskutiert, dass Andy Murray Amelie Mauresmo verpflichtet hat. Hat er die richtige Wahl getroffen?
Murray weiß genau, was er tut. Lendl als Coach war am Anfang auch überraschend für viele, aber die Entscheidung war richtig. Im Fall Mauresmo darf man nicht unterschätzen, dass Murrays Mutter eine große Rolle in seinem Leben spielt. Auch deswegen hat er sich für eine Frau entschieden.

Wo ist der Unterschied, wenn Sie ein Match aus der Kommentatoren-Box oder als Coach verfolgen?Es ist ähnlich. Ich sehe, wenn das Momentum wechselt, wenn ein Spieler Oberwasser hat. Als ehemaliger Profi sehe ich natürlich Dinge, die der Laie nicht sieht. Als Kommentator spreche ich darüber. Das hat bei der BBC, ESPN, SKY England und dem US-Tennis Channel immer ganz gut funktioniert.

Was fühlt der Coach Becker in der Box? Leidet er, weil er nicht eingreifen kann?
Es ist, als wenn ich selber spiele, eine große Herausforderung. Da bin ich auf 180. Es macht mir großen Spaß. Wenn Novak auf dem Platz steht, bin ich komplett im Tunnel.

Werden Coaches überschätzt? Schließlich muss der Spieler alleine spielen.
Ich glaube, dass ich aufgrund meiner Coaches mehr gewonnen habe, als es ohne sie der Fall gewesen wäre. Aber wenn das Spiel losgeht, dann bin ich Außenstehender. Ich kann ein paar Mal reinschreien, aber der Job ist vorher getan. Trotzdem bin ich voll konzentriert. Ich merke, wenn das Match sich verändert. Ich merke, wenn Novak frei spielt und ich merke, wenn er Angst hat.

Empfinden Sie Druck?
Ja, aber nur den Druck, den ich mir mache. Ich will unbedingt, dass mein Spieler gewinnt. Diesen Druck brauche ich, um zu funktionieren. Druck von außen habe ich noch nie gespürt. Ich bin auch nicht nervös. Ich werde eher ruhiger in entscheidenden Momenten. Ich werde nie hektisch, sondern klarer im Kopf.

Von Djokovic heißt es, er könne nicht so natürlich mit Druck umgehen.
Das ist nicht wahr. Er ist die Nummer eins, hat sieben Grand Slam-Turniere gewonnen, er hat ein Jahr lang kaum Matches verloren. Er ist genauso im Tunnel wie Federer oder Nadal. Ich erzähle Ihnen mal etwas über Djokovic.

Gerne.
Er ist mit Abstand der populärste Sportler in seiner Heimat und tut alles für sein Land. Bei der Flutkatastrophe hat er Geld gesammelt und es dann gespendet. Da ruft auf der Fahrt zum Training der Staatspräsident an. Das beschreibt seinen Status in Serbien. Ich bin dankbar, mit ihm arbeiten zu dürfen.

 Air Jordan 4 Retro Off – CV9388 – White Sail – 100 – Jordan Brand quietly slipped in a new rendition of the low-top | cheap air jordan 1 retro high og