Andre Agassi’s First Signing Of His New Autobiography „Open“

Das andere Agassi-Buch: Die Beichte

Ich öffne die Augen und weiß nicht, wo und wer ich bin. Nichts Ungewöhnliches mein halbes Leben lang habe ich das nicht gewusst. Trotzdem fühlt es sich diesmal anders an. Die Verwirrung ist beängstigender. Fast total. Mit diesen Sätzen beginnt die Autobiographie von Andre Agassi, die am 9. November 2009 weltweit erschien, und über die in den folgenden Wochen mehr geschrieben, geredet, gestaunt, gestritten wurde als über die meisten anderen Bücher von Sportlern. Open heißt das 590-Seiten-Werk, das Agassi vom Pulitzer-Preis-Gewinner J. R. Moehringer schreiben ließ. Dutzende von Interviews hatten die beiden zuvor geführt, tausende Seiten Archivmaterial gewälzt.

Erheiternd und schockierend

Schon der Titel ist mehrdeutig. Open* das steht für die Offenheit, mit der Agassi über sein Leben spricht, über eine Karriere voller Ängste und Zweifel, über seinen Hass auf Tennis, über die geraubte Kindheit, den gnadenlosen Vater, seine Rivalen, seine Frauen und Drogen. Aber Open steht auch für seinen Sport: offenes Tennis, Profitennis, seine acht Grand Slam-Titel, die Duelle mit Pete Sampras, mit dem er sich 34 Matches lieferte, und der Agassi mit dem gewonnenen Finale bei den US Open 1995 in eine Krise stürzte.

Es ist ein Strudel, in den der Leser gerissen wird, in dem er mehr über Agassi erfährt als in seinen 21 Profijahren: Verblüffendes, Erheiterndes, Skandalöses, Schockierendes. Das Buch liest sich gut, was nicht verwundert bei der Qualität des Autors. Die Kernaussage, mit der Agassi die Tenniswelt drei Jahre nach seinem Karriereende überrascht: Ich habe Tennis immer gehasst. Wie kann man etwas hassen, bei dem man so viel Erfolg hatte? Mit dem man so viele Menschen inspiriert hat? Wenn Agassi in Pressekonferenzen über seine Matches sprach, klang er wie ein Wissenschaftler, der mehr über die Physik des Spiels zu wissen schien als jeder andere.

Alles eine Lüge? So wie seine Haare? Zum ersten Mal erfährt man, dass Agassi ein Toupet trug. Schon mit 17 fielen ihm die Haare aus. Sein traumatisches Erlebnis hat Agassi am Abend vor dem Finale der French Open 1990, da ist er 20. Beim Duschen verrutscht seine Perücke. Nach Stunden voller Panik gelingt es ihm, die Haarpracht mit Klammern zu fixieren. Am folgenden Tag bangt er nicht um das Match sein erstes Grand Slam-Finale gegen Andres Gomez! , sondern um die Haare. Er hat Angst, sich zu bewegen, weil das Toupet verrutschen könnte.

Image is everything, lautete der Slogan seines Sponsors Canon. Agassi gab den Rebellen mit der Mähne, mit lackierten Fingernägeln, lava-farbenen Leggins, den abgeschnittenen Jeans. Agassi hasste dieses Image, wie er jetzt verrät. Als ihn Jahre später seine damalige Frau Brooke Shields überredet, die Haare abzuschneiden, fällt eine Last von ihm: Mein Toupet war wie eine Fessel, und mein lächerlich langes Haar wie die Eisenkugel, die daran hing.

Kampf gegen den Drachen

Aber hat er selbst nicht eine Rolle gespielt, mit der er alle täuschte? Er war doch, so dachten alle, spätestens nach seiner Wandlung vom Popstar zum Asketen der beste Botschafter seiner Sportart. Der Hass auf Tennis, die ständigen persönlichen Zweifel ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Er hört nicht auf, Tennis zu spielen, weil er sich fragt: Was soll ich denn sonst tun? Ich kann doch nichts anderes. Getrieben wird er anfangs von seinem Vater Emanuel, einem iranischen Einwanderer, der im Straßenverkehr schon mal Leute zusammenschlägt und seinen Sohn mit einer Ballmaschine, genannt der Drachen, quält. Mit 110 Meilen pro Stunde schießen die Bälle aus dem Monstrum. Auf der anderen Seite des Netzes: ein Siebenjähriger.

Für den Teenager Agassi geht das Martyrium in der Nick-Bollettieri-Academy weiter. Die Tennisplätze vergleicht er mit einem Steinbruch. Ich habe meine Kindheit in Isolationshaft und meine Jugend in einer Folterkammer verbracht, heißt es weiter. Agassi schmeißt die Schule, weil er keine Lust zu lernen hat (eine Entscheidung, die er später bereut, als er seine eigene Schule in Las Vegas für bedürftige Kinder gründet und ihm klar wird, wie wertvoll Bildung ist). Von der Akademie kann er nur fliehen, indem er Profispieler wird. Er ruft seinen Vater an, fragt ihn um Rat, als ihm ein Turnierdirektor Geld anbietet. Nimm das Geld! Was willst du denn sonst werden? Etwa Arzt?, donnert Agassi Senior.
Der Sommer der Rache

Das Agassi-Buch es ist auch eine Abrechnung: mit Bollettieri, über den er vor der ersten Begegnung sagt: Ich hoffe inständig, nie mit diesem Mann direkt zu tun zu bekommen und den Rivalen auf dem Platz. Jeff Tarango betrügt ihn bei einem Juniorenturnier beim Matchball. Das religiöse Getue von Michael Chang findet er lächerlich. Von Pete Sampras schwärmt er einerseits, aber er beschreibt den ewigen Widersacher auch als Geizhals, der den Pagen vor einem Restaurant mit einen Dollar Trinkgeld abspeist. Sein schlimmster Feind aber auf dem Platz ist Boris Becker, geannt B. B. Sokrates, weil er den Intellektuellen rauskehre. Dass Becker Agassi in einer Pressekonferenz nach dem Halbfinale in Wimbledon 1995 beleidigt hat, verzeiht er ihm nicht. Es folgt der Sommer der Rache. Im Halbfinale der US Open treffen die beiden wieder aufeinander, diesmal siegt Agassi. Ein paar Monate später bei den Australian Open kommt es nicht zum Finale Agassi gegen Becker, weil der Amerikaner sein Halbfinale gegen Chang absichtlich verliert: Das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist ein weiterer heiliger Krieg gegen Becker. Agassi gibt erstmals zu, ein Match geschoben zu haben.

Immer und immer wieder geht mir durch den Kopf: ein neues Leben.

Betrogen hat er auch mit Drogen. Es ist der Part des Buches, auf den sich die Weltpresse stürzt. Den ersten Kontakt mit Doping hat Agassi schon als Kind. Sein Bruder Phil sagt ihm, dass ihm der Vater winzige, weiße, runde Tabletten geben wird Speed. Bei einem Turnier in Chicago drückt ihm Paps, wie er seinen Vater nennt, tatsächlich die Pillen in die Hand. Agassi schluckt sie, bemerkt, dass er sich wacher fühlt, spielt aber absichtlich schlecht und verliert, damit er die Tabletten nicht noch einmal nehmen muss.
Abgesehen davon, dass Agassi in der Bollettieri-Academy Marihuana raucht, spielt die nächste Passage, in der von Drogen die Rede ist, im Jahr 1997. Es ist das Jahr, in dem sich Agassi von Brooke Shields trennt, in dem er auf Rang 141 der Weltrangliste abstürzt. Agassi trifft sich mit seinem Assistenten Slim in dessen Appartement: Er sagt: Wollen wir uns volldröhnen? Volldröhnen? Ja. Womit denn? Gack. Was ist das denn? Crystal Meth Und warum heißt es Gack? Weil du so ein Geräusch von dir gibst, wenn du high bist. Deine Gedanken rasen so schnell, dass du nur noch gack, gack, gack lallen kannst.

Einen großen Teil der 97er Saison konsumiert Agassi Crystal Meth. Dabei handelt es sich um eine hochgefährliche, stark aufputschende Substanz mit dem Wirkstoff Methylamphetamin. Gegen Ende der Spielzeit, Agassi hat mit seinem Coach Gilbert gerade beschlossen, noch einmal durchzustarten, Challengerturniere zu spielen und sich wieder an die Spitze zu kämpfen, bekommt er einen Anruf von einem ATP-Arzt am Flughafen La Guardia in New York: Er, Agassi, ist bei einem Turnier positiv getestet worden. Agassi schreibt einen Brief an die ATP, in dem er beteuert, er habe nur versehentlich am Glas seines Assistenten genippt, in dem sich der Stoff befunden habe. Die ATP glaubt ihm. Es gibt keinen Dopingfall Agassi. Als Agassis Anwälte ihren Mandanten anrufen und ihm mitteilen, dass der Dopingtest verworfen sei, es keine Spielsperre geben würde, ist die Erleichterung grenzenlos: Ich lege auf und starre ins Nichts. Immer und immer wieder geht mir durch den Kopf: ein neues Leben.
Der Dopingfall Agassi

Eher ein erschummeltes Leben? Die Frage, die sich nach Erscheinen des Buches Millionen von Menschen stellten: Warum behielt Agassi den Drogenkonsum nicht für sich? Will er sein eigenes Denkmal zerstören? Oder wollte er seine Seele reinwaschen? Agassi selbst erklärte, dass er damals an Depressionen gelitten habe, dass er mit seinen Aussagen Menschen helfen will, die ähnlich verzweifelt sind, wie er es war. Die Drogen hätten aber seinem Spiel nicht geholfen. Im Gegenteil: Er habe nach dem Konsum überhaupt nicht Tennis spielen können. Recreational drugs Freizeitdrogen ist der Fachbegriff für Drogen wie Crystal Meth. Das Mittel steht auf der Liste verbotener, leistungsfördernder Substanzen. Denn die Droge kann sehr wohl eingesetzt werden, um die Leistung auf dem Platz zu steigern. Crystal Meth wirkt ähnlich wie ein Amphetamin, also aufputschend. Es ist eine Frage der Dosierung, aber ein Tennismatch ist unter dem Einfluss dieser Droge durchaus möglich, sagt Prof. Dr. Wilhelm Schänzer vom Institut für Biochemie an der Deutschen Sporthochschule Köln.

Im Zweiten Weltkrieg verwendeten Millionen von Soldaten den Stoff, der unter dem Namen Hermann-Göring-Pille bekannt war. Er dämmte Ängste und steigerte Aggressivität.
Der Fall Agassi ist kein Kavaliersdelikt. Aber die ATP hat ihn so behandelt. Sie hat ihn, wie sich jetzt herausstellt, verschleiert, um ihren populärsten Spieler zu schützen und Tennis nicht in eine Krise  zu stürzen.

Die Methoden der ATP

Das normale Strafmaß für das Vergehen von Agassi wäre damals eine Spielsperre von drei Monaten gewesen. Gefällt wurde ein mögliches Urteil von einem der ATP nahestehenden Gremium. Die WADA (Welt-Anti-Doping-Agentur) existierte damals noch nicht. Usus war: Wenn es einen Spieler mit einem positiven Dopingtest gab, drang zunächst nichts an die Öffentlichkeit. Erst, wenn ein Tribunal ihn für schuldig befand und ein Strafmaß aussprach, wurde der Fall publik gemacht. Wurde ein Dopingsünder freigesprochen, erfuhr die Öffentlichkeit nichts davon.
Indem Agassi sich zwölf Jahre später selbst zu dem Drogenkonsum bekannte, brachte er die ATP in Erklärungsnöte. Doch sie schweigt. Auf Anfrage von tennis magazin teilte Graeme Agars, verantwortlich für die Pressearbeit, mit: Niemand in der ATP spricht über das Agassi-Buch. Stattdessen verwies er auf das offizielle Statement, wonach die ATP Dopingtests nicht kommentiert. Mögliche Strafen spreche ein unabhängiges Tribunal aus.

Kontrolleure als Teil der Verschleierung?

Die Frage ist allerdings, wie unabhängig die so genannten panels wirklich waren. Peter Alfano, im Jahr 1997 Kommunikationschef der ATP, äußerte im Gespräch mit tennis magazin seine Zweifel. Die Mitglieder des Gremiums waren zwar keine Angestellten der ATP, wurden aber von ihr ausgewählt. Es liegt also nahe, dass die ATP somit Einfluss auf die Urteilsfindung hatte.
Konfrontiert mit den Vorwürfen beharrt  der damalige ATP-Chef Mark Miles auf der Unabhängigkeit der Tribunale: Es gab keine Ausnahmen. Alle Fälle wurden von unabhängigen Panels angehört und beurteilt. Es gab nie einen Fall, der durch ATP-Personal entschieden wurde.

Unabhängig oder nicht das Urteil im Fall Agassi ist aus heutiger Sicht ein Hohn. Ein läppischer Brief reichte ihm, um einen Freispruch zu erwirken. Nach aktuellen Maßstäben hätte er wohl ein Strafmaß von zwei Jahren erhalten, weil sich die ATP dazu verpflichtet hat, den WADA-Code umzusetzen.
Wie geht die Geschichte weiter? WADA-Boss John Fahey forderte die ATP auf, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Aber: Der Fall Agassi ist verjährt, weil er länger als acht Jahre zurückliegt. Die WADA hat keine juristischen Mittel mehr. Zurück bleibt ein Makel. Auf Agassis Karriere und auf der ATP, deren Anti-Doping-Kampf von Kritikern nach wie vor als zu lasch angesehen wird. Das Buch Open offenbart Einblicke in die damals skandalösen Praktiken. Und hinterlässt zweifelnde Leser. Dass ein solcher Fall auch heute möglich wäre, scheint nicht ausgeschlossen.

Andrej Antic/Tim Böseler
* Andre Agassi „Open – das Selbstporträt“, Droemer, ISBN 978-3-426-27491-0, 22,95 Euro; auch als Hörbuch im „Hörbuchverlag“ erhätlich, ISBN 978-3-86717-539-5
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