2011 Australian Open – Day 6

Die Müdigkeit des Marathon-Mannes

Melanie Oudin, die US-Spielerin, hatte noch einen gut gemeinten Tipp für die Presse: Sprechen Sie John Isner lieber nicht mehr auf das Match in Wimbledon an. Er kann es nicht mehr hören. Ein Gespräch mit John Isner, ohne auf die über elfstündige Jahrhundertpartie gegen Nicolas Mahut zu kommen, die er auch noch gewann? Den legendären fünften Satz einfach verschweigen, den Ausrüster Nike mit dem Endergebnis 70:68 schon auf T-Shirts drucken lässt? Schwierig. Aber so gelangweilt, wie Isner da in seinem Stuhl hängt und sein schwarzes Basecap ständig auf- und absetzt, kann ihn sicher nichts aus der Ruhe bringen.

Isner sitzt im großen Interviewraum des Arthur Ashe-Stadions von New York. Er sieht müde aus , hat dunkle Ringe unter den Augen. Eine Verletzung am Knöchel macht ihm noch Sorgen. Gerade gewann er seine erste Runde bei den US Open in drei Sätzen. Er brauchte weniger als zwei Stunden. War ein bisschen schneller als in Wimbledon, sagt er in seinem breitgezogenen Kaugummi-Englisch. Über sein kindliches Gesicht huscht ein Lächeln. Ein leichtes Lispeln ist zu hören, wenn er redet.

Will er wirklich nicht mehr über Wimbledon sprechen? Mir ist klar, dass ich mein ganzes Leben Fragen dazu beantworten muss, sagt er, betont desinteressiert. Dann rattert er das herunter, was er nach dem geschichtsträchtigen 24. Juni in Wimbledon schon gefühlte tausendmal abspulte: einfach irre, wird es nie wieder geben, mein Name steht für immer in den Tennis-Geschichtsbüchern. Wer ihn so reden hört, kann nicht abschätzen, ob dieses Match Fluch oder Segen für ihn ist. Er weiß es wahrscheinlich selbst nicht so genau.

Er strahlte wie ein Flutlichtmast

Erst genoss er das, was nach dem Rekordmatch auf ihn einprasselte. David Letterman, der bekannteste Late-Night-Talker der USA, lud ihn in seine Sendung ein. Letterman wollte wissen, was er, Isner, dachte, als das Match immer weiterging: 40:40, 50:50, 60:60. Was mich am Leben hielt in der Partie, war die Aussicht auf den nächsten Seitenwechsel. Da konnte ich mich wieder hinsetzen, sagte Isner. Das ­Publikum johlte und Isner strahlte vor Glück wie ein Flutlichtmast. Später durfte er bei einem Baseball-Spiel der New York Yankees den ersten Pitch, also den ersten Wurf, machen eine größere Ehre gibt es im baseballverrückten Amerika nicht.

Schlagartig berühmt! Ein Riesenhype um Big John, den Zwei-Meter-Mann, entstand. Jeder wollte plötzlich etwas vom Marathon-Mann. Manager Sam Duvall schmetterte Interview­anfragen mit einer Standardmail ab: John brauche jetzt Zeit für sich.

Ein paar Wochen nach Wimbledon flüchtete Isner nach Hause zu seinen Eltern. In Greensboro, US-Bundesstaat North Carolina, verkroch er sich in seinem alten Kinderzimmer, stellte das Handy aus, ließ sich von seiner Mutter bekochen und hatte endlich etwas Ruhe.

Ein Match wenn auch kein normales reichte, um sein Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Vor dem Wimbledon-Turnier 2010 war Isner eher Insidern ein Begriff: ein 2,06-Meter langer Schlaks mit einem Monsteraufschlag. Seit Wimbledon ist alles anders. Die Namen Isner und Mahut, fand die US-Zeitschrift Sports Illustrated heraus, waren rund um den 24. Juni die bei Google am meisten gesuchten Begriffe. Dieses Match war mehr ein Ereignis.

Dass ausgerechnet John Isner einer der beiden Protagonisten war, hätte streng genommen gar nicht passieren dürfen. Er gehörte nie zu jenen, denen eine blühende Karriere vorhergesagt wurde. Er war kein Überflieger, er besuchte nie eine Tennisakademie, es gab keinen Plan, keine ehrgeizigen Eltern, die ihn ins Profitennis drängten. Sein Jugendtraum war es nicht, Tennisprofi zu werden.

Er war ein normaler Junge, der nichts lieber tat, als Sport im Fernsehen zu gucken und davon träumte, eines Tages Reporter bei ESPN, dem größten US-Sportsender, zu werden. Zum Tennis kam er mit acht Jahren zufällig, weil ihn seine Mutter in ein Tenniscamp mit seinen beiden älteren Brüdern steckte. Ich wollte Zeit für mich haben und schickte die Jungs zwei Wochen weg, erinnert sich Karen Isner.

Sohn John hatte Talent, das schon. Aber überragend abgesehen von der Körpergröße war nichts an seinem Spiel. Er war zu ungelenk, zu schmächtig, zu schwach. Nebenbei spielte er Basketball. Da war ich gar nicht so schlecht, bin aber immer an den gegnerischen Centerspielern abgeprallt. Die waren viel kräftiger als ich, erzählte er einmal. Mit 14 Jahren entschied er sich dafür, Tennis intensiver zu spielen. Er versprach sich so bessere Aussichten, später ein Sportstipendium an einem College zu bekommen. Exzessives Training, wie es vielen anderen Tenniskindern in diesem Alter verordnet wird, gab es bei ihm nicht. Er spielte drei-, viermal pro Woche, nie länger als 90 Minuten, betont er. Mit 16 wuchs er fast 15 Zentimeter in einem Jahr. Er bereute die Entscheidung, alles auf die Karte Tennis gesetzt zu haben. Basketball hätte besser gepasst.
Matchhärte am College

Von wegen. Als guter Durchschnittsspieler bekam Isner ein Stipendium an der University of Georgia und rutschte ins Tennisteam. Er entwickelte sich zum Führungsspieler und absolvierte über 70 Matches pro Jahr. Am College bekam ich meine Matchhärte, weiß er heute. Der Teamcoach, Manuel Diaz, schärfte seine Waffen: Aufschlag und Vorhand. Sie machten ihn in US-Collegekreisen zu einem gefürchteten Gegner. Mit Anfang 20 arbeitete Isner zum ersten Mal halbwegs professionell als Tennisspieler. Wer seine College-Anekdoten kennt, glaubt allerdings, dass er damals mit Tennis spielenden Siebtklässern auf Klassenfahrt quer durch die USA unterwegs war.

Einmal tauchte Isner die Zahnbürste seines Trainers in superscharfe Salsa-Sauce ein. Diaz brennt heute noch der Mund, wenn er an das Zähneputzen an jenem Abend zurückdenkt, so Isner. Ein anderes Mal wurde Mutter Karen nachts von der Polizei angerufen. Sie hätten ihren Sohn John festgenommen, weil er in der Öffentlichkeit Bier getrunken hatte. Isner war 20; Alkohol zu trinken, ist in den USA aber erst mit 21 erlaubt. Ein Polizist erzählte der Mutter, John hätte ihm versucht weiszumachen, dass er schon 21 Jahre alt sei. Dabei sah er damals aus wie 15 wenn überhaupt, erinnert sich Karen Isner. Babyface John Isner kam mit einer Verwarnung davon.

Spaß hatte Isner am College genug. Langsam stellten sich auch die ersten Erfolge ein. In der Saison 2006/2007 holte sein Team die Meisterschaft, Isner war der beste Mann. Im gleichen Sommer wurde er Tennisprofi. Seinen Uni-Abschluss im Fach Kommunikationswissenschaften hatte er, jetzt wollte er in den Profi-circuit ­schnuppern. In einem Interview sagte er: Es ist verdammt schwer, als Tennisprofi gutes Geld zu verdienen. Da muss man mindes­tens in die Top 100 kommen. Das ist kaum zu schaffen. Nach viel Selbstbewusstsein klang das nicht. Aber er wollte es einfach austesten.

Dann kam das Turnier von Washington im August 2007. Isner gewann fünfmal im Tiebreak des dritten Satzes, feuerte 144 Asse ab (bis heute Rekord für ein ATP-Turnier) und verlor erst im Finale gegen Andy Roddick. Kurz danach, bei den US Open 2007, gewann er gegen Roger Federer den ersten Satz. Tommy Haas, der dreimal gegen Isner verlor, forderte scherzhaft eine Spielsperre für Zwei-Meter-Männer: Die Aufschläge sind nicht zu returnieren. Ende 2007 hatte sich Isner in einem halben Jahr von Platz 836 bis knapp in die Top 100 gespielt.

Das Glück eines Unbekannten, auf dessen unkonventionelle Spielweise mit dem Hammer-Service sich die etablierten Profis einfach nicht einstellen konnten? Das ist nur die halbe Wahrheit. Bei aller Unberechenbarkeit in seinem Spiel: Isner hat sich kontinuierlich verbessert, bewegt sich mittlerweile für seine Größe vergleichsweise geschmeidig und steht nun sogar in den Top 20. Und sein Aufschlag, vor allem der zweite, ist der effektivste auf der Tour. Er ist ein Matchplayer, sagt sein Coach Craig Boynton. Im Training ist er oft richtig schlecht. Aber sobald es um etwas geht, läuft er heiß.

Bei den US Open 2010 ist davon wenig zu sehen. Er kommt zwar in die dritte Runde, sieht aber platt und kaputt aus. Gegen Mikhail Youzhny verliert er schließlich. Trotz der Pleite wirkt er erleichtert. Als ob er sich freue, sich jetzt wieder zurückziehen zu können, raus aus dem Rampen­licht. Vorher muss er noch einmal mit der Presse sprechen. Einer fragt ihn, ob seine Abgeschlafftheit auf dem Platz noch eine Folge aus Wimble­don sei. Isner verneint, schüttelt den Kopf. Er sieht dabei extrem müde aus.

Tim Böseler
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