Mentaltraining Tennis © Thinkstock

Ready to hit! Male tennis player with racket ready to hit a tennis ball isolated on white

Mentaltraining im Tennis: Verwandeln Sie Ihren Matchball im Kopf

Im Profitennis hat sich längst eine Erkenntnis durchgesetzt: ­Mentaltraining ist nichts mehr für Freaks, sondern ein Weg, um besser zu werden. Viele Methoden lassen sich auch von Freizeitspielern umsetzen. Experte Steffen Kirchner verrät seine besten Tipps, die jedem helfen, ein stärkerer Spieler zu werden

Gerade mal fünftausendstel Sekunden berühren Sie bei einem Schlag durchschnittlich den Ball. Multipliziert mit den Schlägen, die Sie in einem Match machen, kommen Sie vielleicht auf vier Sekunden, in denen Ihr Schläger den Ball berührt. Und das ist bereits ein recht hochgegriffener Wert. Damit ist klar: Nicht der Moment des Ballkontakts entscheidet über Erfolg und Misserfolg, sondern die vielen Sekunden davor und danach. Sicher haben Sie von vielen klassischen Mentaltipps bereits gehört oder gelesen – auch im tennis MAGAZIN: Visualisieren Sie Ihren Sieg.

Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Gitarrensaite, um die richtige Spannung zu erzeugen. Arbeiten Sie mit Ihrer Atmung. Versetzen Sie sich in einen Panther oder achten Sie auf Ihre Körpersprache. Einige davon sind sinnvoller als andere. Eins haben sie aber alle gemeinsam: Wie wirkungsvoll sie sind, hängt von etwas ab, mit dem sich die wenigsten beschäftigen. Wenn die Grundeinstellung nicht stimmt, funktioniert jedoch keine dieser Techniken. Die folgenden sieben Tipps aus dem Profilager zielen daher auf Ihre Persönlichkeit ab und können auch Hobbyspieler weit nach vorne bringen.

Tipp 1: Klären Sie, welche Motive Sie antreiben

Was brauche ich, um Gas geben zu können? Bin ich ein Wettkampftyp? Trainiere ich lieber alleine oder im Team? Brauche ich einen Trainer oder bin ich Auto­didakt? Mit solchen Fragen sollten Sie sich auseinandersetzen. Die Motive, die Sie im Leben antreiben und aus denen sich Ihre Persönlichkeit zusammensetzt, müssen Sie kennen. Das ist die Grundlage von allem! Am besten geht das mit einem Test. Oft reicht es aber schon, wenn Sie sich mit Literatur zu dem Thema beschäftigen. Warum ist das wichtig? Die eigenen Lebensmotive sind die Grundlage dafür, welche Strategie die beste für Sie ist. Das Lebensmotiv „Emotionale Ruhe“ beispielsweise zeigt, wie stark mein Streben nach Sicherheit ist. Bin ich ein Sicherheitsspieler oder brauche ich das Risiko? Das ist beispielsweise für die Bestimmung der Aufschlag­taktik wichtig: Belastet oder beflügelt mich der Druck bei einem knappen Spielstand?

Halten Sie sich fern von taktischen Pauschalanweisungen wie: Bauen Sie Angriffsstrategien in Ihr Spiel ein, ist die Fehlerquote höher. Das ist Quatsch. Überlegen Sie sich stattdessen, mit welcher Strategie Sie Ihrer Persönlichkeit entsprechend Punkte gewinnen können. Ein Sicherheits-Mensch tut nicht gut daran, hochriskante Spielstrategien mit vielen Netzangriffen oder Longline-Schüssen zu wählen. Einen Stimulanz-Typ, à la Dustin Brown, sollte man dagegen keinesfalls zu einem Sicherheitsspieler umerziehen, da er so an mentaler Stärke verlieren statt gewinnen würde. Überlegen Sie, was Sie brauchen, um Spaß zu haben in einem Wettkampf. Gerade dann, wenn es hart wird. Was gibt Ihnen Sicherheit und was steigert Ihr ­Energielevel? Schlechtes Wetter, ein blöder Gegner, Angst vorm Verlieren, Schmerzen und, und, und. Energiekiller gibt es zahlreiche – ohne Ihr Zutun.

Um ein erfolgreicher Tennisspieler zu sein, müssen Sie ein erfolgreicher ­Energiemanager sein. Von der Persönlichkeit hängt ebenfalls ab, was Sie sich vorstellen oder visualisieren sollten, um mental stark zu sein. Also auch da Achtung vor gutgemeinten Ratschlägen. Ein Adrenalinjunkie wie Dustin Brown braucht innerlich ganz andere Bilder als Spieler, die eher zurückhaltend und introvertiert sind, wie Florian Mayer oder Daniel Brands. Alle müssen mit ihrer Körpersprache und Visualisierungen arbeiten, aber doch ganz unterschiedlich. Extrovertierte Spielertypen nutzen die Techniken, um sich zu beruhigen und zu konzentrieren; ruhige Typen, um sich zu aktivieren und im Spiel nicht zu defensiv zu werden.

Tipp 2: Verlieren Sie gezielt

Wenn Sie eine Spielstrategie erarbeitet haben, die zu Ihnen passt, müssen Sie sie einüben. Das kann eine ganz schöne Umstellung zu Ihrer bisherigen Spielweise sein, ein ganz anderes Spiel, in dem Sie anfangs nicht so sicher sind. Fallen Sie nicht wieder in Ihr altes Muster zurück, wenn es nicht direkt klappt. Sonst bleiben Sie stehen und entwickeln sich langfristig nicht weiter. Verlieren Sie lieber gezielt. Suchen Sie sich bewusst Trainingsmatches aus, auch gegen Gegner, die Sie sonst schlagen. Gerade im Winter, wenn keine Punktspiele sind, bietet sich das an.

Natürlich kratzen knappe Matches und Niederlagen gegen vermeintlich Schwächere am Ego. Die Vereinskollegen könnten denken, man werde immer schlechter und sei außer Form. Von einer solchen Ergebnisorientierung und möglichen Bewertungen müssen Sie sich befreien und eine individuelle Prozessorientierung entwickeln. Nicht ­einzelne Ergebnisse sind entscheidend, sondern Ihre mittel- bis langfristige Entwicklung als Spieler.

Tipp 3: Nehmen Sie Ihre Gefühle an die Leine

Dass man sich vor oder während eines Wettkampfes zu jeder Zeit pushen sollte, mit lautem Anfeuern und starken Gesten, ist eine Motivations­lüge, die im Sport noch immer kursiert. Sich ­emotional aufzupeitschen kann funktionieren, aber es ist ein gefährliches Spiel. Wer auf der Klaviatur der Emotionen spielt, öffnet auch das Tor für negative Empfindungen. Roger Federer, Rafael Nadal oder Andy Murray – sie alle waren in jüngeren Jahren echte Heißsporne, denen man ihre guten wie schlechten Emotionen extrem ansah. Heute ist davon nicht mehr viel zu sehen. Ihr Spiel wirkt auf der Emotionsebene eher maschinell, ohne größere Reaktionen bei gewonnenen oder verlorenen Punkten. Mit einigen Ausnahmen natürlich: Wenn außergewöhnliche Schläge oder Punkte gelingen, die das Publikum von den Sitzen reißen, gehen sie ganz gezielt einmal in diese positive Emotion, um daraus Kraft zu schöpfen.

98 Prozent aller anderen Punkte spielen sie jedoch von ihrer emotionalen Regung her gleichförmig und verhindern jegliche Art von emotinalem Ausbruch. Das hat nichts damit zu tun, für den Gegner ein Pokerface zu zeigen, sondern ausschließlich damit, sich selbst zu schützen vor emotionalen Schwankungen und somit vor zu hohem Energieverlust, der durch das Spiel mit vielen Emotionen meist entsteht. Nadal & Co. sind Meister, in einen Flowzustand zu kommen. Diesen Flow kennen Sie mit Sicherheit auch. Jeder hat ihn zumindest schon einmal kurz erlebt: einen perfekten Ballwechsel, einen perfekten Satz, vielleicht sogar ein perfektes Match. Was haben Sie in diesem Moment gefühlt? Vermutlich nichts, Sie haben einfach nur gespielt.

Gefühle entstehen durch die bewusste Beurteilung von guten und schlechten Aktionen. Im Flow dominiert das Unterbewusstsein, man spielt intuitiv. In diesem Zustand findet keine rationale Bewertung und damit auch keine außergewöhnlich starke emotionale Regung statt. Der Kopf kann loslassen. Beim Training muss ich bewerten, aber beim Wettkampf bin ich labil, sobald ich bewerte. Schalten Sie Ihre Gefühle gezielt aus, das heißt nicht, dass Sie ohne Herz spielen. Spielen Sie mit Leidenschaft, aber ohne sich ständig zu loben oder zu kritisieren für gute oder schlechte Punkte bzw. Schläge.

Tipp 4: Konzentrieren Sie sich direkt auf die nächste Aktion („Next-Play-Strategie“)

Um in den Flowzustand zu kommen, ist es extrem wichtig, gewonnene wie verlorene Punkte sofort abzuhaken und ihnen innerhalb von spätestens zwei besser nur einer Sekunde keine Bedeutung mehr zu schenken und in die nächste Aktion zu gehen. Das müssen Sie auf dem Platz üben! Vielleicht gehen Sie zum Handtuch oder holen den nächsten Ball – ohne Gefühlsregung, ohne Kommentar. Geben Sie sich keinen Raum, um den vergangenen Punkt zu bewerten.

Viele bleiben am Platz stehen, mit Blick auf das, was passiert ist und fangen an, Geschichten zu erzählen: „Oh Mann, schon wieder ins Netz, warum spiele ich denn heute so schlecht?“ Das geht auf die Körpersprache über, wirkt auf die Biochemie des Körpers und stößt einen negativen Kreislauf an. Also ganz wichtig: sofort körperlich aktiv bleiben, nicht mehr zum Gegner schauen, direkt eine neue Aktion starten.

Tipp 5: Ritualisieren Sie Ihre Abläufe

Wissen Sie eigentlich, was Sie zwischen den Punkten so machen? Darauf sollten Sie eine Antwort parat haben. Denn festgelegte Abläufe, helfen Ihnen, Ihre Gefühle besser zu kontrollieren. Was machen Sie zwischen dem letzten Schlag des alten und dem ersten Schlag des nächsten Punktes? Gehen Sie alle Details durch. Wie oft lassen Sie den Ball springen? Wie atmen Sie? Gehen Sie zum Handtuch oder nicht? Wenn Spieler innerlich unruhig werden, kann man beobachten, dass sie ihre Rituale übergehen. Das ist ein großer Fehler, denn sie verlieren so ihren Rhythmus und erhöhen durch die aufkommende Hektik ihr Fehler-risiko weiter.

Nutzen Sie das Training, um derartige Abläufe zu entwickeln und einzuschleifen. Eine eigene „Pre-Shot-Routine“ ist gerade beim Aufschlag wichtig. Haben Sie eine klare Taktik für den ersten Schlag beziehungsweise den gesamten Punkt? Auch die Abläufe vor dem Rückschlag sollten Sie festlegen. Das vergessen viele. Was sind Bewegungsabläufe, um sich mental auf den nächsten Punkt einzustimmen und gedanklich nicht mehr in der Vergangenheit festzuhängen? Dazu hat jeder Tennis­spieler seine eigenen Methoden. Denken Sie nur an die Marotten von Nadal oder Maria Sharapova. All diese Rituale geben Sicherheit, halten einen in Aktion, verhindern unnötige ­Bewertungen und ermöglichen so einen Flowzustand.

Tipp 6: Geben Sie den Rhythmus vor

Jedes Spiel hat einen eigenen Rhythmus. Der existiert nicht einfach, sondern wird von den Spielern gemacht. Sie können ihn gezielt steuern. Ist Ihr Gegner gerade in einer Schwächephase, können Sie versuchen, das Spiel zu beschleunigen, um den Druck zu erhöhen. Ihre eigenen Rituale sollten Sie aber stets beachten, sonst fangen Sie selbst an, Fehler zu machen. Das Gegenteil ist ebenso möglich. Nicht zuletzt Rafael Nadal und Novak Djokovic haben schon Strafen wegen Spielverzögerung erhalten, da sie ihre Rituale bewusst lange herausgezögert haben.

Es ist eine gezielte mentale Strategie, um den Gegner aus dem Tritt zu bringen. Wenn es schlecht läuft, ist der natürliche Drang, schneller zu werden. Das ist aber genau die falsche Strategie. Gerade, wenn der Gegner im Flow ist, wird er versuchen, möglichst schnell weiterzuspielen. Wenn Sie ihm Ihren Rhythmus auszwingen, können Sie seine innere Balance stören. Außerdem können Sie Ihre Regenerationszeit verlängern.

Tipp 7: Entwickeln Sie einen Körper-Energie-Anker

Jeder Mensch kennt das: Bestimmte Gefühle sind mit besonderen Erlebnissen verbunden. Lieder, Gerüche, Klänge, all diese Reize können mit einer Person, einem Erlebnis oder einer Emotion verbunden sein. Viele Körperreize sind mit Emotions­zentren im Gehirn vernetzt. Eine solche Verbindung kann man im Training bewusst kreieren. Dafür müssen Sie eine Körperstelle definieren. Sind Sie Rechtshänder, bietet sich fürs Tennis beispielsweise eine Stelle an der äußeren rechten Wade an. Bei jedem tollen Erlebnis, bei jedem Erfolg, können Sie mit Ihrem Schläger die Wade an der von Ihnen festgelegten Stelle berühren.

Sie müssen das sicher 50 bis 60-mal wiederholen bis Ihr Energiepunkt aktiviert und „aufgeladen“ ist. In kritischen Situationen, in denen Sie innerlich nervös werden, nutzen Sie diesen Punkt wie folgt: Schlagen Sie mit dem Schläger leicht an diese Stelle, Ihr Körper erinnert sich an den emotionalen Reiz und aktiviert die gespeicherten positiven Gefühle. Setzt man das länger ein, reicht oft schon der bloße Gedanke an den Punkt. Auch Sportler aus anderen Sport­arten nutzen das: Eishockeyspieler fassen sich oft ans Kinn, Gewichtheber schlagen sich oft noch vor ihrem Kraftakt ein paar Mal auf die Brust.

Zusatztippe: Loben Sie Ihren Gegner zu Tode

Den letzten Tipp könnte man in die „Winning Ugly“-Kategorie à la Brad Gilbert einordnen. Er funktioniert so gut, auch außerhalb des Tennis, dass ich Ihnen den nicht vorenthalten will. Die meisten Menschen streben nach Anerkennung. Wenn mein Gegner sehr gut spielt, erzähle ich ihm, wie gut er ist. Am besten so laut, dass die Zuschauer es hören. Ich gebe ihm quasi einen öffentlichen Ritterschlag: „Wahnsinn, wie gut du die Vorhand heute spielst.“ Oder „Du schlägst ja heute auf wie ein Gott.“

Wichtig ist, es ganz ehrlich zu sagen, nicht aufgesetzt oder ironisch. Spielt er gut, ist er wahrscheinlich im Flow, also nicht in der Bewertung. Durch mein Loben steigen die Chancen, ihn aber in diesen Bewertungsmodus zu ziehen. Wenn er die erste Vorhand dann mal ins Aus schlägt, schnappt die Falle zu: „Gott sei Dank. Ich habe schon gedacht, das geht so weiter.“ Damit entziehen Sie ihm die davor gegebene Anerkennung wieder, die er nun krampfhaft versucht zurückzubekommen. Sie werden erstaunt sein, wie gut das funktioniert. Probieren Sie es aus!

Text: Steffen Kirchner

Steffen Kirchner zählt in der Motivations- und Erfolgspsychologie zu den führenden deutschsprachigen Experten. Als Spieler in der Tennis-Bundesliga (Herren 30) setzt er viele Strategien des Mentaltrainings selbst um.do nike outlets sell jordan 1 | air jordan 1 high university blue release date