Ella Seidel

Hohes Tempo: Beim Masters-Turnier in Cincinnati erreichte Ella Seidel das Achtelfinale – bestes Ergebnis ihrer Karriere. Bild: Imago/Stuart

Ella Seidel im Porträt: Auf dem Weg nach oben

Sie ist 20 Jahre alt, rangiert um Platz 100: Ella Seidel aus Hamburg ist eine Wette auf die Zukunft. Wie trainiert sie, wie tickt sie? Eine Annäherung an eine, die mehr will. 

Wie nähert man sich einer Spielerin, die in absehbarer Zeit die deutsche Nummer eins sein könnte? Drei Damen stehen im Ranking noch vor Ella Seidel: Laura Siegemund,  37, und Tatjana Maria, 38, werden mit Verlaub perspektivisch in der Weltrangliste fallen. Bleibt für den Moment Eva Lys, 23. Die Story von Lys, dekoriert mit einem sensationellen Achtelfinale bei den diesjährigen Australian Open und einem medienwirksamen Vertrag mit einem Luxusmöbelhersteller, ist allgemein bekannt. Seidel dagegen ist ein relativ unbeschriebenes Blatt. 

Wie tickt Ella Seidel?

Wer ist die gebürtige Hamburgerin mit den roten Haaren? Wie tickt sie? tennis MAGAZIN hat mit Menschen, die ihr nahe stehen, telefoniert und auch mit Seidel selbst. Subsumiert man die Gespräche, lässt sich ein Bild zeichnen. Wohin ihr Weg gehen wird, weiß logischerweise niemand. Was sie mitbringt für die Profikarriere, die im Grunde gerade erst beginnt, und wie ihr Wesen ist, wird schon deutlicher. 

Erster Anruf bei Barbara Rittner, die Seidel von Talent-Lehrgängen gut kennt. Wenn sich die Dinge bei der ehemaligen DTB-Cheftrainerin anders entwickelt hätten, wäre sie vielleicht Seidels Wegbegleiterin in Sachen Tennis geworden. Aber bei den Australian Open 2024, wo Seidel Rittner gern als Trainerin dabei gehabt hätte, hatte die Grande Dame des deutschen Tennis eine Verabredung als TV-Expertin mit Eurosport. 

Aber sie wusste Rat. „Ich dachte mir, Lars Uebel könnte gut zu ihr passen“, sagt Rittner. Uebel tourte früher mit der „Boys Group“ Benjamin Becker, Matthias Bachinger, Peter Gojowczyk und Tim Pütz auf der Tour. Inzwischen fungiert der 44-Jährige als Sportlicher Leiter Profisport beim Bayerischen Tennis Verband. Sein Arbeitsplatz: die Tennis Base in Oberhaching bei München.

Nach einer Probewoche des Duos Seidel/Uebel im Januar sprang Rittner noch mal für ein paar Monate ein, trainierte mit ihr in Leverkusen. Seit Mai 2024 hat Uebel einen Vertrag über 100 Tage mit der 20-Jährigen, die in Oberhaching lebt und trainiert, wenn sie nicht um den Globus tourt. Seit den French Open läuft eine Testphase von 14 Turnieren zwischen ihr und Uebel. 

Rittner über Seidel: „Ihre Vorhand hat mich begeistert” 

Wenn Rittner über Seidel spricht, fallen Sätze wie: „Sie ist eine fleißige und akribische Arbeiterin.“ An einen DTB-Lehrgang mit der damals 15-jährigen Seidel erinnert sie sich so: „Ihre Vorhand hat mich begeistert.“ Es sei ein „sehr besonderer, gepeitschter Schlag“, der dem Armzug von Julia Görges ähnele. 

Rittner sagt auch: „Ella ist eine sehr komplette Spielerin, die richtig gut Tennis spielen kann. Mit Selbstvertrauen spielt sie extrem mutig und kann den Punkt auch am Netz abschließen.“ Und dann kommt ein Zitat, das immer wieder auftaucht, wenn es um Deutschlands neue Hoffnung geht: „Sie hat eine professionelle Trainingseinstellung und ist bereit sich zu quälen und die Komfortzone zu verlassen.“ 

Ella Seidel

Kleine Schritte gehen: Ella Seidel bei der Arbeit mit ihrem Coach Lars Uebel. Seit eineinhalb Jahren sind sie ein Team.Bild: Imago/Jürgen Hasenkopf

Lars Uebel formuliert es so: „Ihr Trainingseifer ist groß.“ Wer sich länger mit ihm unterhält, bekommt eine Ahnung davon, wie aufwendig das „Projekt Seidel“ ist. Die Zielsetzung? „Ich bin überzeugt, dass Ella die Möglichkeit hat, in die Weltklasse zu kommen“, sagt Uebel und es klingt ein wenig nach angezogener Handbremse. 

Der Berliner neigt nicht zu Schwärmereien. Er denkt eher analytisch. Er seziert das Spiel von Seidel wie ein Chirurg. Den extremen Griff bei der Rückhand hat er schon umgestellt. Auch am Aufschlag mit den Ballwurf-Problemen wird intensiv gearbeitet. Uebel sagt: „Ella muss sich die Frage beantworten, ob sie mutig genug ist, um eingeschliffene Abläufe in ihrem Spiel und in ihrem Leben, die nicht Weltklasse sind, zu verändern?“

Zweiter Aufschlag noch eine Baustelle

Weil bei der jungen Generation „eher Bilder als Worte“ funktionieren, damit das Gehirn Informationen aufnimmt, schickt Uebel ihr viele Videos der Topstars: den Aufschlag von Sinner, dessen technisch perfekte Rückhand. „Am zweiten Aufschlag haben wir noch gar nicht gearbeitet“, sagt Uebel. 13 Doppelfehler sind ihr bei der ärgerlichen 7:5, 1:6, 6:7-Niederlage in der finalen Runde der US Open-Quali gegen Destanee Aiava unterlaufen – zu viele.

Auch die Vorhand, „ihrem Thermometer“, ist noch nicht konstant genug. Vom Tempo kann sie mit den Besten mithalten – „aber nicht über 52 Wochen“. Taktik, Athletik und Kontrolle ihrer Emotionalität – das seien die Hauptbereiche, an denen noch geschraubt werden muss. Am Ende ergibt sich ein großes Ganzes aus vielen Bausteinen.

„Die Wichtigkeit der kleinen Dinge“ trichtert Uebel seiner Schülerin immer wieder ein. Wie ernähre ich mich? Habe ich das optimale Equipment? Wie schaffe ich es, positiv zu denken? Uebel, lizensierter Life Kinetic-Trainer, arbeitet auch mit Neuroathletik. Bei Physiotherapie und Athletik helfen die DTB-Leute Matthias Breunig und Cameron Scullard. Seidel arbeitet zudem mit Ernährungsberatern und der Sportpsychologin Anett Szigeti zusammen. 

Familie ist Trumpf bei Ella Seidel

Mentorin Rittner, Trainer Uebel – es gibt auch noch die Eltern Lars und Anja im „Team Ella Seidel“. Vater Lars, der ein eigenes Beratungsunternehmen hat und der Immobilienindustrie in kaufmännischen Belangen hilft, fungiert als Manager, Mutter Anja kümmert sich um die Abrechnungen. 

„Wir möchten aber im Hintergrund bleiben“, sagt Lars Seidel, als tennis MAGAZIN ihn anruft, „Ella ist die Hauptperson.“ Und die übernimmt immer mehr Verantwortung. „Wenn sie in Cincinnati ist und nach New York reisen muss, ist es wenig sinnvoll, dass wir die Flüge buchen“, sagt Seidel senior. Und fügt hinzu: „Aber natürlich unterstützen wir Ella immer gerne, wenn sie danach fragt.“ 

Ella Seidel

Family First: Ella Seidel mit den Eltern Lars und Anja. Schwester Hedi (18) fehlt auf dem Foto.Bild: Imago/Jürgen Hasenkopf

Fasst man das Gespräch mit ihm zusammen, bleiben unter dem Strich zwei Erkenntnisse: Die Familie ist Trumpf beim seidelschen Quartett inklusive Ellas zwei Jahre jüngerer Schwester Hedi. Und: Die Seidels scheinen bodenständige, vernünftige Leute zu sein. Ins Tennis ihrer Tochter mischen sie sich nicht ein. Druck üben sie keinen aus. „Sie muss für sich abwägen, ob das ihr Weg ist. Wir haben sie nie zum Tennis geprügelt“, sagt Lars Seidel. 

Das finale Interview ist ein Videocall mit der Hauptperson. Seidel hat vormittags in der Base mit Uebel trainiert. Jetzt hat sie Mittagspause. Danach geht es noch mal zwei Stunden weiter – normale Taktung eines Tennisprofis.

Ella Seidel: Zwei Klassen übersprungen, Abi mit 1,1

Das Gespräch mit Seidel ist kurzweilig. Sie lächelt viel, spricht vom „Spaß“, den sie hat, an dem, was sie gefühlt schon ewig tut. Mit sechs schlägt sie die ersten Bälle. Das Elternhaus liegt gegenüber des THC Klipper Hamburg. Sie spielt auch Hockey. Mit elf entscheidet sie sich, nur noch Tennis zu spielen. Sie durchläuft alle Stationen: Bezirks- und Verbandstraining, nationale Lehrgänge.

Am prestigeträchtigen Jüngstenturnier in Detmold nimmt sie dreimal teil. Das erste Mal ist quasi ein Schnuppern an der Seite der gleichaltrigen Tochter ihres damaligen Trainers Christian Geyer, der früher Profi war. „Sie war top professionell. Ich bin da so reingerutscht“, sagt Seidel. Was ihr offensichtlich nicht reichte. Beim dritten Mal gewinnt sie das Turnier. 

In der Schule, einer Eliteschule des Sports, die mit dem Hamburger Tennisverband kooperiert, überspringt sie zwei Klassen, baut ihr Abi mit 1,1. Es scheint sie etwas zu wurmen, dass es nicht 1,0 war, aber Ella will schnell mit der Schule fertig werden, um mehr Zeit für Tennis zu haben.  

Wovon träumt sie? „Sehr weit bei den Grand Slams und soweit es geht in der Rangliste nach oben zu kommen“, sagt Seidel, die Ehrgeizige, die wie eine ganz normale 20-Jährige in der Freizeit gerne Shoppen und Essen geht, sich mit Freunden trifft und Netflix („Gossip Girl“, „Suits“ und „Prison Break“ in Dauerschleife) guckt. Ihr Plan B: „Jura studieren.“ Aber erstmal gilt hoffentlich das, was Barbara Rittner sagt:  „Wir werden an ihr noch Spaß haben.“ 

Vita Ella Seidel

Ella Seidel

Die gebürtige Hamburgerin, 20, ist seit drei Jahren Profi. Aktuell rangiert die 1,76 Meter große Rechtshänderin auf Platz 104. Ihr Grand Slam-Debüt feierte sie bei den Australian Open 2024, wo sie nach überstandener Quali Aryna Sabalenka klar in zwei Sätzen unterlag. Karriere-Preisgeld: knapp 526.000 US-Dollar für das frühere Spitzentalent des DTB, das durchgängig im Porsche Junior Team stand.