Swing Vision-App im Test: Hawk-Eye am Handgelenk
Die Swing Vision-App liefert feinste Datenerfassung des eigenen Spiels per Handy und Smartwatch. Sogar die Überprüfung knapper Bälle in Echtzeit ist mit ihr möglich. tennis MAGAZIN hat das mobile System, das auf jedem Court funktioniert, ausgiebig getestet.
Fotos: Gerrit Staron
(Im Original erschien dieser Text in der Print-Ausgabe 1-2/2023)
Es ist ein echter Aha-Moment: Auf dem schnellen Teppichboden einer Hamburger Halle fliegt das Aufschlagbrett knapp auf die Linie – oder aber knapp daneben. Gut oder aus, das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber: Es kann jetzt auf der Stelle gecheckt werden! Eine Apple-Watch am Handgelenk zeigt mit einem Touch auf das Display an, ob der Ball die Linie noch berührt hat. Mithilfe des kleinen Knopfs am Rand der Apple-Watch, der „Crown“, lässt sich der Aufprall des fraglichen Balls sogar in Super-Zeitlupe vor und zurück spulen. Nach einem Austausch mit dem Gegner am Netz, der sich den Ball auch noch ein paar Mal auf dem Display anschaut, steht fest: Es war ein Ass.
Die Digitalisierung des Tennissports hat die nächste Stufe erreicht. Was vor gut zehn Jahren mit im Schlägergriff eingebauten Sensoren („Babolat Play“) und mit auf Griffkappen zu befestigenden Daten-Trackern („Sony Smart Tennis Sensor“) eher spielerisch begann, hat sich mit dem aus Deutschland stammenden Wingfield-System längst zu einer professionellen Vermessung des eigenen Spiels weiterentwickelt. Wingfield liefert auf entsprechend ausgestatteten Courts mit fest installierten Kameras schon seit Jahren verlässlich all die Statistiken, die zuvor nur den Profis zugänglich waren.
Videos ohne Leerlaufphasen
Nun aber kommt mit Swing Vision eine App, die nicht mehr ortsgebunden ist, sondern die das Datentracken eines Matches auf jedem Court der Welt ermöglicht – inklusive „Instant Line Calling“, also der Überprüfung des Ballabdrucks in Echtzeit. Was man dazu braucht, ist ein möglichst neues iPhone (ab der 12er-Serie), eine Apple-Watch (die neueste SE-Variante ist ausreichend) und eine Haltevorrichtung, mit der man das Handy möglichst hoch an einen Zaun oder Vorhang hängt. Auf Android-Handys läuft die App aktuell noch nicht. Über die zuvor heruntergeladene Swing Vision-App (kostet 150 $ pro Jahr!) lassen sich Trainingseinheiten (Rallys/Aufschläge) und Matches (Einzel/Doppel) tracken.
Die App liefert danach jede Menge Statistiken, Tabellen, Übersichtskarten der Treffpunkte und vor allem: Videos. Swing Vision zeichnet die Einheit auf und kann dank künstlicher Intelligenz erkennen, mit welcher Schlagart und mit welchem Tempo der Ball übers das Netz gerauscht ist. Wird die Aufnahme beendet, speichert Swing Vision das Video zunächst auf dem iPhone (wichtig: für ausreichend Speicherplatz sorgen!), um es später in eine Cloud zu übertragen. Dort bleibt für den User alles abrufbar.
Unmittelbar nach einer Session wird die komplette Aufnahme auf dem Handy angezeigt – allerdings ohne die „Leerlauf-Phasen“. Heißt: Nur die Schläge sind in dem Zusammenschnitt zu sehen, nicht die Pausen, in denen etwa Bälle geholt werden. Darüberhinaus bietet Swing Vision eine Vielzahl unterschiedlicher Video-Formate an, die an Highlight-Reels von gängigen Tennis-Streaming-Plattformen erinnern: „Die fünf längsten Ballwechsel“, „Die fünf besten Ballwechsel“ oder „Deine Vorhandschläge“.
Vielseitige, detaillierte Analysen
Über eine Filterfunktion lassen sich auch eigene Videoschnipsel zusammenstellen. Zum Beispiel: „Jede Vorhand-Topspin cross, die seitlich im Aus landete.“ Wer ein Match trackt, kann über die Apple-Watch auch Favoriten markieren. Wenn einem also ein wunderbarer Rückhand-Passierball gelingt, muss man nur einmal kurz über das Display der Uhr wischen und der zuvor gespielte Ballwechsel ist favorisiert. So entsteht dann in Echtzeit eine Sammlung der besten Schläge, die nach der Aufnahme direkt abrufbar ist. Über eine Editierfunktion lassen sich aber auch im Nachhinein noch Favoriten festlegen. Überhaupt: Das Video-Tool ist äußerst vielseitig, auch einzelne Schläge lassen sich per Zeitlupe oder im Zoom direkt auf dem Handyscreen detailliert analysieren.
Swupnil Sahai ist das Mastermind von Swing Vision. Der Amerikaner aus San Francisco brachte zwei Grundvoraussetzungen für die Entwicklung der App von Haus aus mit: technisches Verständnis und Leidenschaft für den Tennissport. Er schaffte es ins Highschool-Tennisteam, später als Student an der renommierten University of California in Berkeley spielte er hobbymäßig weiter. Der 32-Jährige studierte parallel Wirtschaft, Mathematik und Statistik. Danach fing er als Ingenieur beim E-Autobauer Tesla an und spezialisierte sich auf die 3D-Objekterfassung zur Verbesserung des autonomen Fahrens.
Dabei kam ihm die Idee, sein Know-how auch für eine Tennis-App einzusetzen. Ein Zimmerkollege aus Berkeley, Richard Hsu, half ihm bei der Umsetzung, 2019 erschien die erste Version im App-Store.
Mit Roddicks und Blakes Power
Seitdem passierte viel: Die früheren US-Profis Andy Roddick und James Blake investierten in das Projekt. Sie pushten die App in der US-Tennisszene. Apple wurde auf Swing Vision aufmerksam und ernannte sie zur „App des Tages“ – ein Brandbeschleuniger für eine Nischenanwendung. Mittlerweile hat Sahai zwölf festangestellte Mitarbeiter. An den US-Colleges ist Swing Vision längst Standard. Der australische und der britische Tennis-Verband setzen die App als offizielles Tracking-Tool ein.
tennis MAGAZIN traf Sahai im Sommer 2022 in Paris bei einer von Apple organisierten Swing Vision-Präsentation. Das US-Tech-Unternehmen hat großes Interesse an Swing Vision, weil die App auf seine Geräte angewiesen ist. Aber warum eigentlich? Sahai erklärt: „Wir brauchen beim Tracking per Video eine Frame-Rate von 60 Bildern pro Sekunde. Das können aktuell nur neuere iPhones leisten. Hinzukommt, dass die Verarbeitungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz bei Android-Handys zu gering ist. Allerdings sollen bald bessere Modelle etwa von Google auf den Markt kommen. Wir hoffen, im Frühjahr 2023 eine Androidversion anbieten zu können.“
Swing Vision: „Eine absolute Killer-App“
Sahai spricht wie ein abgezockter Manager, kommt aber mit seiner fast kindlichen Begeisterung und seinem legeren Outfit eher wie ein frischer Uni-Absolvent rüber, der sein junges Start-Up an den Mann bringen will. Bei seinem Vortrag über Swing Vision verliert er schnell seine anfängliche Schüchternheit: „Leute, wir haben hier eine absolute Killer-App entwickelt!“
Zurück in Hamburg. Ist Swing Vision nun wirklich so cool? tennis MAGAZIN testete die App in mehreren Einheiten – draußen und drinnen. Was sofort auffällt: Das Set-Up ist tatsächlich einfach. iPhone in die mitgelieferte Halterung klemmen, App öffnen, Teleskopstab ausfahren und die Vorrichtung an eine der Kopfseiten des Courts in den Zaun hängen. Das Handy ist so ausgerichtet, dass die Kamera den Platz im Fokus hat, während das Display nach hinten zeigt. Für die Feinjustierung kommt die Apple-Watch zum Einsatz: Sie zeigt an, ob das iPhone richtig sitzt und alle Linien erfasst. Erscheint ein grüner Haken auf dem Display der Uhr, kann die Einheit beginnen.
Verlässliche Datenerfassung
Swing Vision lieferte in unseren Tests die Daten, die einen Durchschnittsspieler interessieren: Wie viele Breakbälle hatte ich? Wie oft kam im ersten Satz mein Aufschlag nach außen? Habe ich mit der Rückhand häufiger Topspin oder Slice gespielt?
In der Hinsicht arbeitet die App verlässlich. Ungereimtheiten traten bei der Geschwindigkeitsmessung auf. Nach einem Testmatch stach in der Rubrik „Ball Speed“ ein Schlag mit 184 km/h hervor – das ist, so viel Ehrlichkeit muss sein, viel zu schnell. Wir checkten das Video, spulten bis zum vermeintlichen Hammerschlag vor, fanden aber nur einen eher zarten Slice-Aufschlag. Laut Sahai kommen solche Messfehler noch verhältnismäßig häufig vor. Auch das „Hawk-Eye am Handgelenk“ arbeitet nicht so effektiv, wie es in Aussicht gestellt wird. Hier räumt Sahai ein, dass die Genauigkeit erst bei etwa 95 Prozent liegt. Kein Vergleich also zum echten Hawkeye.
Swing Vision: Überraschungen und Probleme
Ein Problem: Da nur eine Kamera im Einsatz ist, wird das Auftreffen des Balls manchmal vom Spieler im Vordergrund verdeckt. An der Stelle vertraut Swing Vision auf seine künstliche Intelligenz und errechnet den Aufprallpunkt. Hinzukommt, dass die Überprüfung eines Abdrucks in der von der Kamera weiter entfernten Hälfte oft keine weiteren Erkenntnisse liefert, weil die Bilder auf der Apple-Watch zu unscharf sind. Allerdings: Bei vielen engen Bällen gerade auf Teppich eignet sich das „Line-Calling“ durchaus, um eine Entscheidung im Einklang mit dem Gegner zu finden – und wenn es am Ende nur „Zwei Neue“ sind. Was uns überraschte: Im Match-Modus zählt Swing Vision nicht automatisch mit. Man muss jeden Punkt über die Apple-Watch mit einem kurzen „Swipe“ händisch eingeben. Das ist anfangs ungewohnt, wird aber schnell zu einem kleinen Ritual. Fazit: Wer Apple-User ist und die Geräte besitzt, der sollte Swing Vision einen Gratis-Monat lang testen.
Die Swing Vision-App im tennis MAGAZIN-Schnell-Check
Swing Vision ist eine Tracking-App, die mit künstlicher Intelligenz Spieldaten via Handy und Smartwatch sammelt. Die App kostet im Pro-Modus (inkl. 30 Stunden Aufnahmezeit) 150 US-Dollar pro Jahr. Im Beginner-Modus (gratis) gibt es nur zwei Aufnahmestunden pro Monat. Außerdem sind viele Extra-Funktionen nicht freigeschaltet. Eine Handy-Halterung mit Teleskopstab wird oft im Set mit der App angeboten. Es lohnt sich öfter mal bei https://swing.tennis vorbeizuschauen!
Pro
– Hohe Mobilität. Das System lässt sich auf jedem Tennisplatz schnell installieren.
– Reibungslose Erfassung der Standarddaten (Schlagarten, Treffpunkte, Ball-Platzierung).
– Statistiken, Tabellen und Heatmaps wie man sie von den Profis kennt nach jeder Einheit.
– Große Videovielfalt durch das Filtern nach favorisierten Schlägen oder Schlagarten.
Contra
– Funktioniert aktuell nur mit Apple-Geräten. 2023 soll aber die Android-Version folgen.
– Fehleranfällig bei den Geschwindigkeitsmessungen und beim Line-Calling.
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