Alexander Zverev, Mohamed Lahyani

Alexander Zverev diskutiert mit Schiedsrichter Mohamed Lahyani über eine strittige Entscheidung beim Masters-Turnier in Madrid.Bild: Imago/ABACAPRESS

Electronic Line Calling: „Dem Schiedsrichter wird keine Entscheidungskompetenz mehr zugestanden“

Ein Gastkommentar von Stefan Hempel

Als beim Masters-Turnier in Madrid der Strom ausfiel, kam der Spielbetrieb abrupt zum Erliegen. Die elektronischen Systeme waren außer Kraft gesetzt, die Bildschirme schwarz, die Ballverfolgung und Netzsensorik funktionslos. Zugegeben, auch ohne technische Hilfsmittel hätte kein geregelter Wettkampf stattfinden können, doch es hat eine grundlegende Wahrheit offenbart: Der Tennissport ist heute so stark technisiert, dass ohne funktionierende Systeme kaum noch etwas möglich ist.

Diese Entwicklung hat sich über Jahre hinweg schleichend vollzogen. Was einst als Hilfestellung gedacht war, etwa das Hawk-Eye zur Überprüfung knapper Linienbälle, hat sich zu einem System entwickelt, das den menschlichen Faktor zunehmend verdrängt. Linienrichter wurden abgeschafft, Schiedsrichter sind zu Beobachtern geworden, und selbst die Spielerinnen und Spieler können viele Entscheidungen nicht mehr hinterfragen. Die Technik entscheidet – schnell, objektiv, aber auch endgültig.

Challenge-Regel gut fürs Tennis

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als mit der Einführung der Challenge-Regel erstmals Technik sinnvoll in das Spielgeschehen eingebunden wurde. Drei Mal pro Satz konnten die Spieler eine Entscheidung überprüfen lassen, was für Spannung und taktisches Abwägen sorgte. Der Zuschauer wurde dabei mitgenommen, die Entscheidung transparent gemacht. Diese Form der Techniknutzung war aus meiner Sicht vorbildlich, weil sie unterstützte, ohne zu entmündigen.

Heute hingegen trifft die Technik jede Entscheidung selbst. Ein Computer ruft „Out“, eine synthetische Stimme setzt das Urteil durch, und niemand darf widersprechen. Gerade auf Sandplätzen wird die Fragwürdigkeit dieser Entwicklung besonders deutlich. Dort ist der Ballabdruck häufig sichtbar, doch es zählt nur das digitale Signal. Selbst wenn der menschliche Blick einen anderen Befund ergibt, bleibt der Schiedsrichter machtlos. Die Technik hat das letzte Wort, auch wenn sie sichtbar irrt.

Der Mensch ist zur Randfigur geworden

Mehrere Vorfälle haben gezeigt, wie unflexibel das System geworden ist. Spieler protestierten zu Recht gegen falsche Entscheidungen, doch es blieb beim elektronischen Urteil. Der Schiedsrichter konnte nicht eingreifen, weil ihm keine Entscheidungskompetenz mehr zugestanden wird. Der Mensch ist zur Randfigur geworden, obwohl es gerade im Sport doch um menschliche Leistung, Wahrnehmung und Reaktion gehen sollte.

Die vollständige Technisierung betrifft nicht nur das Profispiel. Auch die Wege in den Sport verändern sich. Früher war es ein echtes Erlebnis, als Linienrichter an einem Turnier teilnehmen zu dürfen. Ich selbst habe so zum Tennis gefunden, zuerst als Ballkind, später als Linienrichter. Das war ein Einstieg in die Tenniswelt, der Stolz und Zugehörigkeit vermittelte. Heute fällt der Einstieg als Linienrichter weg, da diese Rolle von Maschinen ersetzt wird, was nicht nur Effizienzgewinne bedeutet, sondern auch ein Stück Sportkultur verschwinden lässt.

Zweifellos hat die Technik dem Tennissport Fortschritte gebracht. Sie macht viele Entscheidungen präziser, das Spiel für das Publikum nachvollziehbarer, und sie reduziert offensichtliche Fehlentscheidungen. Doch die Kehrseite dieser Entwicklung ist die wachsende Abhängigkeit von Systemen, deren Ausfall das gesamte Geschehen lahmlegen kann. In Madrid war es ein Stromausfall, an anderen Orten sind es kleinere Pannen oder Verbindungsprobleme. Immer dann zeigt sich, wie wenig Flexibilität bleibt, wenn keine Menschen mehr vorhanden sind, die im Notfall eingreifen können.

Tennis lebt von dem Moment des Zweifels

Noch gravierender ist jedoch der emotionale Verlust. Tennis lebt nicht nur von exakten Entscheidungen, sondern von Unsicherheit, von Spannung und auch von dem Moment des Zweifels. Wenn jede Entscheidung vorab feststeht, entfällt ein wichtiger Teil des Spiels. Der Reiz, die Kontroverse, sowie das Gefühl, dass etwas auf dem Spiel steht – all das schwindet, wenn die Technik jede Diskussion im Keim erstickt.

Ich plädiere nicht für eine Abkehr von technischen Hilfsmitteln. Im Gegenteil, ich sehe ihren Nutzen. Aber ich plädiere für Maß und Verantwortung. Technik sollte unterstützen, nicht dominieren. Sie sollte Möglichkeiten eröffnen und keine Alternativen ausschließen. Und sie sollte den Menschen im Spiel nicht ersetzen, sondern entlasten.

Vielleicht ist es an der Zeit das Maß, in welchem technische Hilfsmittel im Tennis verwendet werden, nochmal zu überdenken. Nicht um den Fortschritt aufzuhalten, sondern um zu bewahren, was den Sport lebendig macht: die Beteiligung, das Mitdenken und das emotionale Erleben. Der Mensch steht beim Tennis, wie in jedem anderen Sport auch, im Mittelpunkt und sollte wieder eine aktivere Rolle einnehmen.

Stefan Hempel

Stefan Hempel, Sportmoderator und Kommentator, ist seit vielen Jahren für den Pay-TV-Sender Sky tätig.