Mit Rad und Racket

Abfahrt! Autor ­Benjamin Simon (li.) mit Rad und ­Anhänger beim Start seiner Radtour in seinem Heimatverein LTTC Rot-Weiss Berlin mit Club­manager Lutz Müller. Bild: Benjamin Simon

Mit Rad und Racket: Von Berlin bis nach Istanbul

Von Berlin nach Istanbul mit dem Rad und dabei immer wieder auf dem Tennisplatz stehen: Für unseren Autor war es die Reise seines Lebens. Aus dem Tagebuch eines Tennisreisenden.

Text und Fotos: Benjamin Simon

Da ist er, mein Abreisetag, auf den ich seit ein paar Monaten hingefiebert hatte. Das Wetter meint es gut mit mir, die Sonne scheint. Ich habe alles gepackt, was ich brauche, um eine sichere und halbwegs bequeme Reise auf meinem Rad von Berlin nach Istanbul zu haben. 

Mit Rad und Racket

Nur das Nötigste: Das ­Gepäck unseres Autors auf seiner „Rad und ­Racket-Tour“ quer durch Europa.

Es ist der 20. März 2025. Morgens um 10 Uhr stehe ich abfahrbereit auf dem Gelände des LTTC Rot-Weiß Berlin, ­meinem Heimatverein. Die Luft ist kalt und klar, ich bin gefasst und voller Vorfreude auf die Fahrt und ich weiß, dass heute etwas beginnt, das mich noch lange in meinem Leben begleiten wird. Vor mir liegt ein Monat voller Ungewissheit. 

Losfahren ins Unbekannte

Ein neues Gravelbike, ein Anhänger mit den nötigsten Dingen und, ganz wichtig, den Tennisschlägern – viel habe ich nicht dabei. Bloß keinen Ballast mitziehen. Lutz Müller, der Clubmanager des LTTC, und ein paar Freunde verabschieden mich herzlich. Sie drücken mich, wünschen mir Glück, und in ihren Augen liegt dieser Mix aus Bewunderung, Verwunderung und Sorge. 

Mit Rad und Racket

So weit die Beine strampeln: Insgesamt 2.400 Kilometer legte Benjamin Simon auf ­seiner Tour per Rad zurück.Bild: Benjamin Simon

Ich trete los, Richtung Istanbul, über Prag, Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad und Sofia. Jeden Tag will ich rund hundert Kilometer fahren. So oft wie möglich möchte ich auf dem Weg bei Tennisvereinen einkehren, die Menschen kennen lernen, über das Leben sprechen und durch den Sport den Zugang finden. Ich weiß, das ist ehrgeizig, aber genau das ist der Reiz: losfahren ins Unbekannte, die Herausforderung annehmen – es einfach machen.

Die ersten Kilometer durch Brandenburg sind still. Ich höre nur das Surren der Kette und mein eigenes Atmen. In Dahme/Mark empfängt mich Christoph Seydel, Vorsitzender des TSV Empor Dahme, so herzlich, dass ich mein Zelt gar nicht aufschlage, sondern im Vereinsheim schlafe. Beim traditionsreichen TSV Blau-Weiß ­Blasewitz in Dresden ist es ähnlich: Ich darf im Gästehaus übernachten.

Tennis ist mein Schlüssel, mein gemeinsamer Nenner

Schon jetzt wird mir klar: Menschen öffnen Türen, ­Tennis ist mein Schlüssel, mein gemeinsamer Nenner mit Fremden, die plötzlich keine Fremden mehr sind. Die Tage durch Sachsen und Böhmen sind hart. Morgens Nebel, Kälte und dicke ­Handschuhe, ­mittags lange Landstraßen, abends die Frage: Wo finde ich ein Dach über dem Kopf, wo kann ich duschen, wo lade ich meine Akkus? 

Stundenlang trete ich, und in der Monotonie öffnen sich meine Gedanken: Warum tue ich mir das an? Dann wieder merke ich, wie sehr mich diese ­Freiheit trägt; keine Termine, keine Telefonate, keine E-Mails, das ist ungewohnt. 

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Sandpartie in Prag: Unterm Hallendach des I. Český Lawn-Tennis Klub Praha kam tM-Autor Simon zum Einsatz.Bild: Benjamin Simon

In Prag komme ich beim I. Český Lawn-Tennis Klub Praha unter, wieder im Gäste­zimmer. Clubmanager Vladislav Šavrda organisiert eine Tenniseinheit in der Halle mit einem Mitglied und ich schlage die ersten Bälle auf meiner Tour. Danach folgt richtig großes Tennis: Ich lerne den drei­fachen Grand Slam-Sieger Jan Kodes ­kennen. In der Nacht steigt eine Erkältung in mir auf. Sie zwingt mich am nächsten Tag dazu, den Weg von Prag nach Wien mit dem Linienbus zu fahren.

Tennisplätze haben etwas Beruhigendes

In Wien erhole ich mich und besuche den TC Colony, eine große moderne Anlage, direkt hinter dem Allianz-Stadion von Rapid Wien gelegen. Johannes Graski, der Geschäftsführer, empfängt mich wie einen alten Freund, und sofort fühle ich mich zu Hause. Tennisplätze haben etwas Beruhigendes – egal wo, sie sind wie ein vertrauter Rhythmus im Spiel.

Ich merke, dass ich mich dort genauso konzentriert und lebendig fühle wie auf dem Rad. Auf dem Platz wie im Sattel gilt: jede Entscheidung zählt, jeder Moment fordert mich. Ich bleibe ein paar Tage. Auch Johannes bietet mir ein Zimmer auf der Anlage an und ich nutze die Zeit, erkunde und erlebe Wien.

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Begegnung mit der katze: In Bratislava traf Simon den legendären Miloslav Mecir, Olympiasieger von 1988 in Seoul.Bild: Benjamin Simon

Weiter geht es über Bratislava nach Budapest. Auf diesem Abschnitt der Reise schließe ich Bekanntschaft mit einem ­deutschen Studenten, der auf dem Rad nach Rumänien unterwegs ist. Wir fahren einige Tage zusammen, die Nächte verbringen wir in unseren Zelten an der Donau. Bei einem Lagerfeuer kochen wir uns abends leckere Mahlzeiten, und erzählen ein wenig über uns, unsere Wünsche und Träume. In Budapest trennen wir uns. Für mich geht es allein weiter bis nach Novi Sad in Serbien, mit einem kurzen ­Abstecher nach Kroatien für eine Nacht.

Treffen mit Filip, dem Djokovic-Besieger

Auf der Fahrt nach Novi Sad erlebe ich den unangenehmsten Tag meiner Tour. Die Deichkrone an der Donau ist nur mäßig ausgebaut, sie gleicht eher einem Trampelpfad, und dann kommen auch noch Regen und Schnee hinzu. Doch bei meiner Einfahrt nach Novi Sad entdecke ich gleich eine Tennisanlage, auf der zwei Männer eine ambitionierte Trainingseinheit absolvieren. Ich lerne den Trainer Filip (35) kennen, einen ehemaligen serbischen Jugendmeister.

Er erzählt von seiner Zeit in Texas, von Turnieren in Europa, von seinem Trainer Zoran Petkovic, dem Vater von Andrea Petkovic. Filip strahlt Ruhe und Leidenschaft aus. Wir reden nicht nur über Tennis, sondern auch über Verantwortung, Lebenswege, die der Sport eröffnet. Seine Gedanken begleiten mich über viele Kilometer, so wie ein Gespräch am Platzrand auch ­später im Match nachwirkt. Filip hatte in seiner Jugend eine 4:1-Bilanz gegen Novak ­Djokovic, in serbischen Tenniskreisen ist er bekannt wie ein bunter Hund.

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Nole-Vibes: Mit Filip, einem Jugendgegner von Novak Djokovic, spielte Autor Benjamin Simon in Novi Sad ein paar Bälle.Bild: Benjamin Simon

Der nächste Stopp: Belgrad. Auf der Anlage von Roter Stern Belgrad treffe ich Sophia Ksandinov. Sie ist 17 Jahre alt, spielt in München Regionalliga, ist dreifache Bayerische Meisterin und international erfolgreich. Sie wirkt offen, herzlich, voller Energie. Ich begleite sie bei einem Turnier-Match, halte mein Versprechen, am nächsten Tag wiederzukommen. Am Rand sitzen Slobodan Vojinović, der Sportdirektor, und Ivan Bjelica, ein ehemaliger Profi.

Wir führen persönliche Gespräche und tauschen uns über den Tennissport in Serbien aus. Ich merke, wie sehr mich diese Welt aufnimmt, obwohl ich als Fremder gekommen bin. Auch Sophia beeindruckt mich nicht nur als Spielerin, sondern als Mensch. Sie ist konzentriert, mutig und zugleich so unbeschwert. 

Ich trete, ich atme, ich denke

Je weiter ich nun fahre, desto einsamer wird es. Lange Straßen, Sonne, Wind, welliges Land. Ich trete, ich atme, ich denke. An einer Tankstelle spreche ich mit einem jungen Serben, der zwischen Wien und seiner Heimat pendelt. Abends vermittelt mir eine Frau eine Unterkunft, ich lande bei einem älteren Mann und seiner Tochter. ­

Wieder spüre ich diese Offenheit, diese kleinen Wunder am Wegesrand. Ich war ein wenig ratlos, die Sonne war bereits untergegangen und ich suchte Hilfe bei dieser Tankstelle. Weit und breit war kein Hotel, keine Bleibe zu finden. Und dann nehmen mich einfach ein paar Fremde bei ihnen auf. 

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Tennisclub auf dem Weg durch Serbien: In der Stadt Pirot grüßt Novak Djokovic von der Ballwand.Bild: Benjamin Simon

In Niš lerne ich Nikola kennen, Leiter der Zivkovic Tennis Academy. Er zeigt mir stolz seine Anlage, hoch über der Stadt, mit Blick ins Gebirge. Wir sprechen Deutsch, er hat lange in Deutschland gelebt. Dann kommt Ognjen hinzu, 16 Jahre alt, mit serbisch-schweizerischen Wurzeln. Wir schlagen ein paar Bälle, er erzählt von seinem Online-Schulalltag in der Schweiz und seinen Ambitionen.

Ich sehe in seinen Augen diesen Ehrgeiz, dieses Feuer. Sein Wille ist ansteckend. Ich drücke ihm die Daumen für seine Karriere und – viel wichtiger –, dass er den Spaß am Tennis nicht verliert. Dann fließen die Kilometer wieder dahin und das Ziel Istanbul rückt näher.

Mein Körper ist gezeichnet

In Bulgarien wird es hart. Mein Rad schwächelt, das Tretlager knackt. In ­Varbitsa treffe ich Adriana, die aus Deutschland zurückgekehrt ist. In ­Plovdiv rolle ich durch die Stadt und treffe ­Laurent, einen Franzosen auf dem Weg nach China – mit dem Rad!

Sein Mut ist wie ein Spiegel meiner eigenen Reise, nur in einem größeren Maßstab. Und dann, in Haskovo, lande ich mitten auf einem ITF-Turnier, treffe den Vater von Grigor Dimitrov und schlage mit Rui-Yan Zhang, einer jungen Chinesin, ein paar Bälle. Ein unerwartetes Geschenk, ein Moment, den ich nie hätte planen können.

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Auf bulgarischer Asche: Mit der Chinesin Ruien Zhang schlug unser Autor eifrig Bälle.Bild: Benjamin Simon

Am 30. Tag bin ich in Svilengrad. Die Stadt liegt kurz vor der Grenze zur Türkei. Müdigkeit, Erleichterung und Vorfreude mischen sich. Mein Rad klingt, als würde es auseinanderfallen, mein Körper ist gezeichnet. Doch in mir ist diese Kraft, gespeist aus Begegnungen, Überraschungen und Gedanken. Ich weiß: Istanbul ist nah.

Während der vielen Stunden auf dem Rad lerne ich, dass die Fahrt selbst mein größter Lehrer ist. Das Rad zwingt mich, immer wach zu sein, jede Entscheidung bewusst zu treffen: Wann wechsle ich den Gang, wie verteile ich meine Kräfte, wann halte ich an? Genau wie im Tennis, wo jeder Schlag zählt, jeder Augenblick Konzentration fordert, und zugleich die Freude trägt, dass jeder Ballwechsel neu beginnt. Auf beiden Feldern – dem Platz und der Straße – finde ich mich in derselben Haltung wieder: aufmerksam, fokussiert, neugierig auf das, was kommt.

Eine Idee ist zur Realität geworden

Schließlich erreiche ich Istanbul. Eine Idee ist zur Realität geworden. Knappe 2.400 km liegen nun hinter mir. Eine letzte Kurve, ein letzter Anstieg und dann liegt diese Metropole vor mir. Es sind nun sommerliche Temperaturen und ich suche die Strecke zum Marmarameer. Ich genehmige mir einen Kaffee und springe ins Wasser. Die letzten Kilometer genieße ich und rolle entspannt meinem Endpunkt entgegen.

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Tennisfan: Gökhan Dönmez (re.), Ex-Präsident des türkischen Tennis­verbandes, leitet heute eine ­Akademie und das Café Runner-Up.Bild: Benjamin Simon

Ich gönne mir ein fantastisches Essen zur Belohnung in einem bekannten Restaurant mit Blick auf das Meer und die wartenden Schiffe auf der Durchfahrt durch den Bosporus. Am Abend checke ich in mein Hotel ein und setze am darauffolgenden Tag mit einem Boot rüber auf die asiatische Seite Istanbuls. Währenddessen kommt es zu einem Erdbeben, das die Stadt erschüttert. Eine merkwürdige Erfahrung und auch ein wenig beängstigend.

In Istanbul erfahre ich, dass auf dem Parkdeck des „Swissôtel Bosphorus“ eine Tennisschule und ein Tennisclub privat betrieben werden. Mit dem Betreiber Bulent Ustaoglu tausche ich mich lange aus und er zeigt mir seine Anlage mit dem Blick über den Bosporus nach Asien. Danach besuche ich das Café „Runner Up“. Es ist ein wahres Tennis-Café mit einem gemalten Tennisplatz auf dem Boden und zahlreichen alten Rackets an den Wänden – einen besseren Abschluss meiner Reise hätte es nicht geben können!

Es braucht wenig, um zufrieden zu sein

In der heutigen Rückschau ist meine Radreise nach Istanbul eine wunderbare Abwechslung gewesen, die mir gezeigt hat, wie wenig man braucht, um zufrieden zu sein. Regierungen und Staaten streiten sich, während die Menschen in all den Ländern auf meiner Reise so zuvorkommend, hilfsbereit, freundlich, ja einfach nur menschlich gewesen sind.

All die überraschenden Begegnungen in Clubs und Akademien zeigten mir: Es gibt so viele Menschen, die für Tennis brennen und die mir zeigten, wie sehr dieser Sport verbindet. Ich reiste zwar allein, war aber nie wirklich einsam. Jede Begegnung füllte die Leere neu, jeder Schlag und jeder Kilometer schenkten mir etwas.

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Über den Dächern von Istanbul: tM-Autor Benjamin Simon checkt noch einen letzten Court mit Blick über den Bosporus.Bild: Benjamin Simon

Und am Ende bleibt mir ein Bild im Kopf, das ich auf meiner Fahrt und ­meinen Etappen verinnerlicht habe: Das Leben kennt keine Abkürzungen. Jeder Kilometer will gefahren, jeder Ballwechsel gespielt, jede Entscheidung getroffen werden. Der Weg selbst formt den Menschen. Der Gegenwind macht mich langsamer, aber er stärkt mich.

Das Alleinsein schmerzt mitunter, aber es schenkt Klarheit. Die Umwege kosten Kraft, aber sie führen zu Orten und Menschen, die ich sonst nie gesehen hätte. So ist es auch im Leben: Der Wert liegt nicht im Ankommen, sondern im Gehen. Nur wer den Weg geht, kann ihn verstehen.

Infos über den Gastautor

Benjamin Simon

Benjamin Simon ist 47 Jahre alt, Berliner, Vater von zwei Kindern. Seit 1987 ­leidenschaftlicher Tennisspieler, früh engagiert als C-Trainer im Jugendbereich. Heute aktiver Spieler beim LTTC Rot-Weiß Berlin (LK12). ­Arbeitete lange als Manager einer großen Dienstleistungseinheit in einem internationalen Unternehmen im Bereich Facility Services. Nach einer beruflichen Auszeit widmet er sich nun persönlichen Projekten – unter anderem einer mehrwöchigen Tennis-Radreise bis nach Istanbul. Übirgens: Den Rückweg nach Berlin trat er per Schiff und Flugzeug an.