Medibank International 2011 – Day 2

Eine Frage der Ehre

Sie lächelt viel. Das ist das erste, das bei Aravane Rezai auffällt. Sie lächelt auf dem Platz, beim Training, bei den Sponsorenterminen, die jetzt immer häufiger werden. Das zweite, das auffällt, ist diese rauchige Stimme. Eine Stimme, die klingt, als hätte sie schon viel erlebt. Was auch der Fall ist. Die Geschichte von Madame Rezai, 23 Jahre alt, Französin, ist die ungewöhnlichste Lebensgeschichte seit der Williams-Story. Venus und Serena Williams wuchsen im Ghetto von Los Angeles auf, Aravane Rezai im Armenviertel von Saint-Étienne. Anfang der 80er Jahre immigrierten Arsalan und Nouchine Rezai, Arazanes Eltern, aus dem Iran nach Frankreich. Mit bescheidener Perspektive. Er war Automechaniker, sie saß zu Hause in der Zwei-Zimmer-Wohnung und schneiderte. Geld hatten sie nicht, aber Träume. Als Arsalan Rezai 1983 die French Open mit dem Sieger Yannick Noah im Fernsehen sah, und er beobachtete, wie sich Noah und dessen Vater nach dem Finale in die Arme fielen, lief in seinem Kopf ein Film ab. Rezai senior war wie besessen von diesen Bildern dem Erfolg eines Außenseiters (Noah stammt aus dem Kamerun) und den starken Familienbanden. Es war der Beginn der Tenniskarriere von Aravane Rezai, bevor sie geboren wurde.

Training bei Nacht

Rezai möchte über diese Dinge nicht unbedingt sprechen. Nicht über das Training mit dem überehrgeizigen Vater, das nachts stattfand, weil sich ihre Eltern die Platzgebühren nicht leisten konnte. Nicht über die Zäune, über die sie kletterten, um auf die Courts zu kommen. Nicht über den Ofen, den sie auf dem Platz aufstellten, damit sie sich im Winter aufwärmen konnten. Um überhaupt Licht zu haben, parkte Arsalan Rezai seinen Wagen direkt am Platz und schaltete die Scheinwerfer ein. 
Nur so viel zu diesem Thema: Ich habe so viel durchgemacht. Ich habe so viele Opfer gebracht, erzählt Rezai, das ist der Grund, warum ich mental so stark bin, warum ich immer alles auf dem Platz gebe. Ich vergesse nicht, wo ich herkomme. Wenn man Aravane Rezai gegenübersitzt, ist ihre Energie förmlich spürbar. Auf dem Platz, sagt die 23-Jährige, und ihre dunklen Augen verengen sich, ist es wie Krieg.
Wahrscheinlich redet man so, wenn einem nichts geschenkt wurde, wenn man sich alles hart erarbeiten musste. Als Juniorin reiste Rezai mit ihrem Vater per Wohnmobil durch Europa. Die beiden schliefen und aßen dort. Die Reisekosten wurden von dem kleinen Preisgeld gedeckt, das sich Rezai bei drittklassigen Turnieren verdiente. Vom französischen Verband gab es keine Unterstützung.

Treffen in New York

Als Rezai 19 war, begegnete sie dem Mann, der später zu einem ihrer wichtigesten Berater und Coaches werden sollte: Patrick Mouratoglou, Ex-Coach von Marcos Baghdatis und Besitzer einer eigenen Tennisakademie in der Nähe von Paris. Rezai spielte damals bei den US Open in New York, und Mouratoglou war begeistert von ihren Schlägen. Nach dem Turnier sprach er mit Rezais Vater, um ihn zu überreden, seine Tochter zu ihm nach Paris zu schicken. Es dauerte ein Jahr, bis das Familienoberhaupt einwilligte. Mouratoglou gibt die erste Reaktion von Arsalan Rezai auf seine Anfrage so wieder: Er sei freundlich gewesen, aber habe gesagt: Wir haben als Familie angefangen und werden das als Familie durchziehen. Wir brauchen nichts. Vielen Dank.
Inzwischen ist das Eis zwischen Rezai senior und Mouratoglou gebrochen. Aravane Rezai trainiert und lebt mit ihrer Familie in  dessen Akademie mit dem Vater, der Mutter, die sie mittlerweile als Physiotherapeutin betreut, dem Bruder Anauch, der als Hittingpartner fungiert, und der Schwester Caminde, die in Paris studiert. Seit dem Turnier in Bali im letzten November wird Rezai von Patrick Mouratoglou persönlich betreut. Zuvor hatte er sich zweieinhalb Jahre um Anastasia Pavlyuchenkova gekümmert. Als die Zusammenarbeit mit der Russin auslief, bat Vater Rezai den Coach: Bitte begleite meine Tochter nach Bali. Das Turnier ist uns wichtig.
Es war der Beginn der erfolgreichsten Phase in der fünfjährigen Profikarriere Rezais. Rezai gewann in Bali das sogenannte B-Masters, das Abschlussturnier der Spielerinnen aus der zweiten Reihe. Ein halbes Jahr später besiegte sie beim 4,5-Millionen-Dollar-Turnier in Madrid im Endspiel Venus Williams und katapultierte sich unter die besten 16 Spielerinnen der Welt. In Frankreich wird sie fortan als Star gefeiert wegen der außergewöhnlichen Vita und weil sie das besitzt, was der derzeit einzigen anderen französischen Top 20-Spielerin, Marion Bartoli, fehlt: Charisma, Ausstrahlung, absoluter Siegeswille. Der berühmte Funke springt bei Rezai über. Als sie bei den French Open in der zweiten Runde gegen Nadia Petrova auf dem Court Central spielte, feuerten sie 16000 Zuschauer an. Es war eine dramatische Partie, in der Rezai drei Matchbälle abwehrte, immer wieder die Faust ballte, die Arme nach gelungenen Punkten zum Himmel riss und, noch bevor das Match wegen Dunkelheit abgebrochen wurde, zum 7:7 im dritten Satz ausglich. Eine Flamme in der Nacht, schwärmte die französische Sportzeitung LEquipe am nächsten Tag von der neuen Heldin. Dass sie das Match am Ende mit 8:10 verlor, verziehen ihr die Landsleute.
Spürt sie Druck, den hohen Erwartungen nicht gerecht zu werden? Nein. Die Aufmerksamkeit ist ein großes Geschenk für mich. Man wird populär, weil man vorher hart gearbeitet hat, sagt sie. Stolz sei sie auf ihre Leistung.

Das Herz für die Nummer 1

Stolz ist das Stichwort. Bei Rezai hat man immer das Gefühl, es sei alles eine Frage der Ehre. Man kann das mit ihrem kulturellen Hintergrund erklären. Sie ist gläubige Muslimin, spricht zu Hause Farsi, die Landessprache im Iran. Vor allem ist sie auch gehorsame Tochter, die meinen Vater stolz machen will. Zweimal, 2001 und 2005, gewann sie für das Land ihrer Vorfahren bei den Olympischen Spielen für muslimische Frauen die Goldmedaillen im Einzel und Doppel (ihren Einsatz als Fed Cup-Spielerin beeinträchtigt das nicht, da die Veranstaltungen von der ITF nicht anerkannt werden). Gespielt wurde in Teheran hinter hohen Zäunen, damit kein Mann einen Blick auf die Frauen werfen konnte, die ohne Kopftücher, aber in langen Shorts antraten. Als ihr Vater aus der Heimat angefeindet wurde wegen des freizügigen Outfits, das sie trägt, antwortete er: Im Westen kleidet sie sich wie eine Europäerin, im Iran trägt sie die dort übliche Kleidung.
Wo wird Rezais Reise enden? Venus Williams, die Finalgegnerin in Madrid, bescheinigte ihr eine große Zukunft. Richard Williams glaubt: Sie wird die Nummer 1 werden. Sie hat das Herz dafür. Vor rund 15 Jahren prognostizierte der Vater von Venus und Serena, dass seine Töchter einmal die Besten der Welt sein würden. Es war keine schlechte Vorhersage.

Andrej Antic
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