Alexander Zverev: Pass gut auf dich auf, Sascha!
Nach seinem Wimbledon-Aus sprach Alexander Zverev offen über mentale Probleme. Was er jetzt braucht sind Ruhe und Abstand – ein persönlicher Kommentar.
Der schlaksige Junge mit dem blonden Schopf zieht an der Hand einer Frau, die in ihrem Tennis-Dress und der drahtigen Figur wie eine Profispielerin aussieht. Sie steht am Rande eines Trainingscourts in Melbourne und packt ihre Tennistasche. Der Junge, dessen großer Schläger nicht ganz zu seinem schmächtigen Körper passen will, nölt und jammert. Er verzieht sein Gesicht, lässt den Schläger frustriert auf den blauen Hartplatz sinken. Die Frau, es ist seine Mutter, sagt etwas zu ihm, in einem schneidenden Ton. Dann verlässt sie langsam den Platz. Der Junge schlurft widerwillig hinterher.
Irina Zvereva müht sich noch mit ihrem jüngeren Sohn ab, als sie beim Trainingsplatz von Mischa, ihrem Ältesten, ankommt, der mit einem Sparringspartner Bälle schlägt. „Er will ständig mit mir auf den Court, um Tennis zu spielen“, sagt sie und deutet auf den dünnen Kerl, der ihr mit hängendem Kopf und schlabbrigem Shirt nachgelaufen kommt. Dann steht er neben ihr und blickt kurz hoch. Die Enttäuschung ist ihm ins Gesicht geschrieben. „Das ist Sascha“, sagt die Tennislehrerin Irina Zvereva. Wie alt ist er jetzt? „Fünf.“
Alexander Zverev: besser als sein großer Bruder
Bei den Australian Open 2003 traf ich das erste Mal auf Alexander Zverev. Damals spielte sein Bruder Mischa in der Junioren-Konkurrenz mit und die Zverevs, inklusive Sascha, waren vor Ort. Es fehlte nur Vater Alexander Senior, der in Hamburg Tennistraining geben musste. Mischa verlor damals in der dritten Runde gegen Mathieu Montcourt, der Junioren-Sieger hieß Marcos Baghdatis.
Wenn die Profifelder langsam ausdünnen, fluten die Nachwuchsspieler die Außencourts und Trainingsplätze der Major-Turniere. Die besten Junioren aus aller Welt präsentieren sich auf der Grand Slam-Bühne. Manager von Vermarktungsagenturen, Scouts von Schlägerfirmen, Trainer bekannter Tennis-Akademien beobachten die Szenerie. Welches Talent fällt besonders auf? Aus wem könnte ein Großer werden? Und wem kann man erste Verträge anbieten? Schon vor mehr als 20 Jahren war das so wie heute.
Wer sich damals in der „Junioren-Bubble“ umhörte, was noch wesentlich einfacher als heute möglich war, bekam einiges über die Zverevs zu hören. Mischa war 2003 einer der jüngsten Teilnehmer im Junioren-Feld von Melbourne und stach durch sein schon komplettes All-Court-Game hervor, inklusive Volleyabschluss vorne am Netz. Das gefiel einigen Kennern der Szene. Und doch raunten sie am Ende eines Gesprächs: „Aber sein kleiner Bruder, dieser Sascha, der soll ja noch viel besser sein.“
Erster großer Auftritt. Alexander Zverev mit 16 Jahren 2013 am Hamburger Rothenbaum.Bild: Imago / Metelmann
Ich konnte das damals als junger Tennis-Reporter nicht einschätzen. Mir war das suspekt: Klar, der fünfjährige Knirps, der irgendwann seine Mutter dann doch wieder dazu brachte, mit ihm ein paar Bälle zu schlagen, hatte ohne Zweifel Talent. Aber konnte er wirklich besser als sein großer Bruder werden?
Inzwischen hat sich die Antwort erübrigt. Sascha Zverev ist Deutschlands bester Tennisspieler seit Boris Becker. Punkt. Was diese Szene von Melbourne 2003 in der Retrospektive vor allem zeigt: Alexander Zverev wurde in diese schillernde und gleichzeitig so unbarmherzige Profitenniswelt regelrecht hineingeboren. Er kennt es nicht anders, als von Turnier zu Turnier zu ziehen, jeden Tag auf dem Trainingsplatz zu stehen und sich wieder auf das nächste Match vorzubereiten. Das ist seine Welt. Von klein auf hat er kaum etwas anderes gemacht.
Gleichzeitig ist er mit all den Erwartungen und Überfrachtungen seiner tennisspielerischen Fähigkeiten groß geworden. Mit all den Vergleichen („Der nächste Boris Becker“) und mit der großen Frage, wie viele Grand Slam-Titel es denn am Ende seiner Laufbahn wohl werden? Sechs oder vielleicht doch eher eine zweistellige Anzahl?
Ich habe Alexander Zverev als Junior und angehenden Profispieler oft getroffen, aber wirklich nah bin ich ihm nie gekommen. Um ehrlich zu sein: Als Spieler hat er mich nur in seinen jungen Jahren wirklich gefesselt. Wie er sich mit fast zwei Metern so flüssig und geschmeidig bewegt, ist auch nach wie vor beeindruckend. Irgendwann aber wurde mir sein Spielstil zu eindimensional, fast schon zu langweilig. Was aber immer blieb: Der Respekt vor seinem Fokus, vor seinem Eifer, mit dem er seinen großen Zielen hinterherjagt – trotz der Rückschläge bei den Grand Slam-Turnieren. Sein Arbeitsethos auf der Tour ist beispiellos.
Jahrelang hat Zverev funktioniert und abgeliefert. Nicht in dem Maße, wie man ihm das als Junior prophezeit hatte, aber weit über jede Durchschnittlichkeit hinaus. Und trotzdem stellte ich mir oft die Frage: Wie hältst du das alles aus, wenn du jahrelang einer der besten Tennisspieler der Welt bist, aber von vielen nicht als solcher wahrgenommen wirst, weil dir ein Grand Slam-Titel fehlt?
Natürlich habe ich keine Ahnung, ob das alles eine Rolle spielt für den Auftritt von Alexander Zverev gestern, nachdem er in der ersten Runde in Wimbledon ausgeschieden war. Er offenbarte in seiner Pressekonferenz jedenfalls mentale Probleme und kehrte sein Innerstes nach außen.
Alexander Zverev: Auf der Suche nach seinem Glück
Er sprach von der Einsamkeit eines Spitzen-Tennisspielers und wie ihm die Motivation abhandenkam: „Es ist schon komisch, ich fühle mich da draußen manchmal sehr allein. Ich habe mentale Probleme. Ich versuche, Wege zu finden, irgendwie aus diesem Loch herauszukommen, aber ich lande irgendwie immer wieder darin. Selbst wenn ich gewinne, wie in Stuttgart oder Halle, ist es nicht unbedingt das Gefühl, das ich früher hatte, als ich überglücklich und motiviert war, weiterzumachen. Momentan fehlt mir dieses Gefühl einfach.“
Mir lief es bei seinen Worten eiskalt den Rücken runter. Und ich musste an diesen kleinen Jungen denken, der mir 2003 in Melbourne über den Weg lief und nur Tennis im Kopf hatte. Der fast weinte, weil seine Mutter mal eine Pause vom ständigen Training einlegte.
Er soll sich alle Zeit der Welt nehmen, um seine Probleme in den Griff zu kriegen. Jeder hat das Recht, besser auf sich aufzupassen und mal nur an sich zu denken – auch Alexander Zverev. Dazu braucht er nun Ruhe und auch Abstand von der Tour. „Ich muss herausfinden, was mir Spaß im Leben macht. Das ist jetzt meine Hauptaufgabe als 28-Jähriger“, sagte er noch.
Hoffentlich findet er irgendwann den Weg zu seinem wahren Glück – und der muss nicht zwangsläufig zu einem Grand Slam-Titel führen.