Autoimmunkrankheiten im Tennis: Krankheit schützt vor Siegen nicht
In der Weltklasse des Tennis haben sich einige Spitzensportler wie Alexander Zverev, Danielle Collins und nun auch Eva Lys getraut, ihre Autoimmunkrankheiten öffentlich zu machen. Prof. Dr. Michael Schirmer und Dr. Peter Kaiser erklären, warum Diabetes und entzündliches Rheuma kein Hindernis für Top-Leistungen sind.
Interview: Martina Goy
Erschienen in der tennis SPORT 2/2024
Dr. Schirmer, Dr. Kaiser, nach dem Diabetiker-Outing von Alexander Zverev hat nun Eva Lys öffentlich gemacht, entzündliches Rheuma zuhaben. Hochleistungssport bei einer chronischen Erkrankung – wie funktioniert das?
Dr. Schirmer: Beide chronischen Erkrankungen heilen nicht aus wie ein Knochenbruch nach einem Unfall. Beim Diabetes ist sicher noch mehr die ständige Überwachung wichtig, bei Spondyloarthritis, also der entzündlich-rheumatischen Erkrankung, bedarf es beim geschulten Patienten seltener einer akuten Intervention während des Sports. Auf Dauer ist wichtig, dass jeder Betroffene selbst über die Erkrankung und seine Therapiemöglichkeiten Bescheid weiß, sich nicht mit halber Therapie zufriedengibt, sondern wirklich mit seinem behandelnden Arzt das volle Ansprechen auf die Therapie anstrebt. Egal ob man spritzt oder eine andere Therapie einsetzt.
Dr. Kaiser: Alexander Zverev spritzt sich sogar während der Seitenwechsel wegen seiner Diabetes. Auch Grand Slam Sieger Arthur Ashe und Billie Jean King wie auch Matthias Steiner, Olympiasieger im Gewichtheben sowie Hockey-Weltmeister Timur Oruz sind Diabetiker. Und mit Danielle Collins hat Ende März eine Top-Spielerin mit einer rheumatoiden Arthritis das 1000er-Turnier in Miami gewonnen. Die ehemalige Nummer 1 der Welt, Caroline Wozniacki aus Dänemark, gewann trotz gleicher Erkrankung sogar viele Titel. Diese Beispiele zeigen, dass das optimale Ansprechen auf die Therapie essentiell für Sportler ist, da sie dann ihre Krankheit kontrollierbar machen.
Alexander Zverev erhielt als Kind die Diagnose Diabetes 1, muss lebenslang Insulin spritzen, manchmal auch im Match. ©Imago/Ella Ling
Was genau ist eine Spondyloarthritis?
Dr. Schirmer: Die Spondyloarthritis ist die häufigste, entzündlich-rheumatologische Erkrankung und betrifft in unseren Breitengraden etwa jeden 70. Menschen. Man unterscheidet zwischen der Spondyloarthritis mit vorrangiger Beteiligung der Wirbelsäule, und jener mit vorrangiger Entzündung der Gelenke, Sehnenansätze, der Finger oder Zehen. Auch Augen, Haut und Darm (Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa) können mitbetroffen sein.
Dr. Kaiser: Aus orthopädisch-unfallchirurgischer Sicht handelt es sich um eine Entzündung des muskuloskeletalen Systems, welche in der Behandlung primär konservativ anzugehen ist. Sollte es im Lauf der Erkrankung erforderlich sein, kann der Patient natürlich auch einer Operation zugewiesen werden.
Woran merkt man die Erkrankung?
Dr. Schirmer: Die ersten Symptome sind meist die entzündlichen Wirbelsäulenschmerzen, Gelenksschwellungen und Sehnenansatzentzündungen.
Dr. Kaiser: Gerade bei jungen Patienten vor dem 45. Lebensjahr werden die Anfangssymptome oft als unspezifisch abgetan, da Rückenschmerzen sehr häufig sind. Gerade deshalb ist dann auf die Wirbelsäulen-, Sehnen- und Gelenksbeschwerden besonders zu achten, aber auch die anderen Symptome wie eine Augenentzündung, Schuppenflechte und Darmentzündung sind abzufragen.
Entzündlich-rheumatische Erkrankungen gelten als ,unheilbar‘…?
Dr. Schirmer: Ja, aber wesentlich ist, dass wir die Auswirkungen der entzündlich-rheumatischen Erkrankungen durch eine geeignete Therapie unter Kontrolle bringen. Wir können heute viel bessere Therapien anbieten als noch vor wenigen Jahren. Dazu zählen nicht nur physikalische Maßnahmen, sondern auch medikamentöse Ansätze mit Tabletten, subkutanen Injektionen und Infusionen. Je nach Patient, seiner Erkrankung und der aktuellen Krankheitsaktivität wird dann vom Rheumatologen die Therapie zusammengestellt.
Dr. Kaiser: Wenn der Patient dann auch noch ausführlich geschult wird, kann er mit der Erkrankung besser umgehen. Und wenn die Therapie anspricht, kann der Patient sehr gut damit leben und natürlich Tennis spielen, zumal immun-mediierte Erkrankungen wie die Spondyloarthritis im Alter ruhiger werden können – ganz ohne oder nur mehr mit leichteren Schüben.
Schmerzen im unteren Rücken bei der Aufschlagbewegung können ein Anzeichen für Spondyloarthritis sein. ©Imago
Was machen die Medikamente mit dem erkrankten Sportler?
Dr. Schirmer: Die Medikamente zielen darauf ab, die Krankheitsaktivität zu minimieren und Schübe selten bis nie aufkommen zu lassen. Der Sportler soll somit wieder seinem Sport nachgehen können, ohne dass er durch die Erkrankung besonders eingeschränkt wird. Sport insgesamt tut gerade den Patienten mit entzündlichen Rückenschmerzen sogar sehr gut und wird prinzipiell empfohlen!
Dr. Kaiser: Die Wartezeit bis zur Diagnose beträgt im Durchschnitt immer noch einige Jahre. In dieser Zeit nimmt man in der Regel erst einmal keine besonderen Medikamente und hat den Leidensdruck der Krankheit. Man kann sich vorstellen, was sich in dieser Zeit abspielt. Das hat natürlich bei einem Spitzensportler eine ganz besondere Bedeutung. Als Betreuer eines Tennisspielers mit Spondyloarthritis ist vorrangig die Therapie durch den Rheumatologen solange zu optimieren, bis das Tennisspielen wieder möglich ist. Das heißt für den Sportler auch, dass er nun eventuell regelmäßig Medikamente einnehmen muss, was eine kurzzeitige zusätzliche psychische Belastung auslösen könnte. Da jedoch die Wirkung der Medikation bald verspürt wird, löst sich meist diese Belastung. Grundsätzlich gilt, auch für Hobbyspieler: Wir müssen öfter und früher daran denken, dass die Spondyloarthritis so häufig ist!
Was passiert in den Phasen eines ,Krankheitsschubes‘?
Dr. Schirmer: Die Phase des Krankheitsschubes kann den typisch entzündlichen Rückenschmerz, die Gelenksschwellungen, die Sehnenansatzentzündungen (wie an den Achillessehnen) und die dicken Finger oder Zehen umfassen. Dazu kommen möglicherweise die gleichzeitige Verschlechterung der Augen-, Haut- oder Darmbeteiligung. All diese Beschwerden sollen nach korrekter Diagnosestellung einer Spondyloarthritis und spätestens sechs Monate nach Einleitung einer passenden Therapie praktisch nicht mehr vorkommen.
Dr. Kaiser: Wichtig ist wirklich festzustellen, ob es sich um einen Schub der Spondyloarthritis oder nicht-entzündliche Beschwerden handelt. Bei Beschwerden im Rahmen der Spondyloarthritis ist die rheumatologische, antientzündliche Therapie zuständig. Die nicht-entzündlichen Beschwerden können natürlich auch bei Gesunden vorkommen und benötigen eine ganz andere, zusätzliche Therapie.
Eva Lys sprach nach dem Outing von Erleichterung. Warum?
Dr. Schirmer: Jede Erkrankung bedeutet nicht nur physischen sondern auch psychischen Stress. Sportler und alle anderen Erkrankten können die ersten Symptome nicht zuordnen, warten wie schon erwähnt, im Durchschnitt Jahre bis zur Diagnose und sind bei der Therapie abhängig vom behandelnden Arzt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass mit einem Outing das persönliche und berufliche Umfeld dann mehr Verständnis für den oder die Betroffene hat – auch für Eva Lys. Sie wird sich danach wieder besser voll und ganz dem Sport zuwenden können, sobald die Therapie optimiert ist.
Dr. Kaiser: Alleine das Wissen um die Erkrankung führt meist zu mehr Verständnis des Umfeldes, sodass die Beschwerden wie auch mögliche Turnierabsagen oder Trainingsschwächen besser nachvollzogen werden können und die Person nicht gleich als ,schwach‘ oder ,sensibel‘ angesehen wird. Oft hilft den Menschen auch ein Austausch in einer Gruppe mit ähnlichen Symptomen oder in ähnlichen Lebenssituationen. Speziell für Patientinnen mit einer rheumatoiden Arthritis wurde die „Advantage Hers“ Kampagne gegründet, welche von Caroline Wozniacki aktiv als Patientensprecherin unterstützt wird.
Welche Rolle spielt die Psyche?
Dr. Schirmer: Die Psyche spielt sicher eine Rolle, wenn ich eine Erkrankung habe. Sobald der Sportler aber mit der Erkrankung richtig umgehen kann, spielt die Psyche vielleicht beim Gegner eine größere Rolle als beim Erkrankten selbst. Möglicherweise denkt er viel mehr über die Erkrankung und die möglichen Folgen nach. Dem Outing kommt da eine ganz besondere Rolle zu.
Dr. Kaiser: Mal schauen wie die Gegner reagieren!
Können Physiotherapie und Krafttraining helfen?
Dr. Schirmer: Physiotherapie spielt eine wichtige Rolle in der Behandlung der Rückenschmerzen, und kann auch wichtig sein im Rahmen eines entzündlichen Schubs der Gelenke oder Sehnenansätze. Wichtig ist vor allem, dass die Übungen nicht nur bei der Physiotherapie, sondern auch täglich zu Hause angewendet werden. Diese Disziplin sollte aufgebracht werden. Krafttraining kann gezielt sinnvoll sein, ist aber nicht typisch für die Behandlung der Spondyloarthritis.
Dr. Kaiser: Allgemein ist die Physiotherapie ein ganz wichtiger Bestandteil der Therapie der Spondyloarthritis, um die Steifigkeit der Gelenke und den Funktionsverlust vor allem nach den Entzündungsphasen wieder rückgängig zu machen. Das Krafttraining sollte nach erfolgter Lockerung und Dehnung der Muskulatur und Gelenke beginnen. Insbesondere ist darauf zu achten, dass die Muskulatur auch zwischen den Trainingseinheiten und Wettkämpfen gelockert wird.
Eva Lys ist Mitglied des Billie Jean King Cup-Teams. Im März 2024 machte sie ihre rheumatische Auto-immunerkrankung öffentlich. ©Imago/Jürgen Hasenkopf
Muss der Spieler eine besondere Einstellung der Krankheit gegenüber haben, um weiterspielen zu können?
Dr. Schirmer: Man sollte zu sich sagen können: ,Okay, das hab‘ ich eben – jetzt muss ich lernen, damit umzugehen.‘ Wichtig ist, sich Zeit zu nehmen für sich selbst. Dabei hilft, möglichst alle krankheitsbezogenen Fragen aufzuschreiben, die auftauchen. Oft ist es anfangs schwierig, die entzündlichen, krankheitsbezogenen Beschwerden von den nicht-entzündlichen Beschwerden zu unterscheiden. Manchmal ist es auch einfach nur lästig, über die Erkrankung befragt zu werden. All die Fragen, wie man sich in solchen Situationen verhalten kann, sind dem Arzt des Vertrauens zu stellen. Dieser Arzt, der sich mit der Erkrankung auskennen sollte, wird Lösungen anbieten, bis die Antwort verständlich ist, vom Patienten umgesetzt werden kann und damit das Problem wirklich gelöst wird.
Dr. Kaiser: Die Diagnose Spondyloarthritis heißt nicht, dass die Karriere zu Ende ist oder man mit dem Tennisspielen aufhören muss. Vielmehr gilt: Ich brauche jetzt eine gute Behandlung und muss lernen, damit ein ganz normales Leben zu führen.
Was passiert im Alter, wenn ich trotz Diagnose weitergespielt habe?
Dr. Schirmer: Im Alter wird die Spondyloarthritis oft sogar weniger aktiv. Natürlich können gröbere Verletzungen zur Funktionseinschränkung führen. Aber das gilt genauso für den Gesunden. Der Sportler hat vielleicht wegen dieser Diagnose sogar noch mehr auf seinen Körper geachtet und umfassender trainiert, was im Alter durchaus auch positive Auswirkungen haben kann. Und der Sportler ist meist unter ärztlicher Kontrolle und selbst aktiv, sodass er Antworten auf seine Fragen finden wird. Selten schreitet die Erkrankung wirklich so weit fort, dass sie zu strukturell bedingten, wesentlichen Funktionseinschränkungen führt. Das ist jedenfalls nach bisherigen Erkenntnissen bei Frauen seltener.
Dr. Kaiser: Schlecht ist es, ohne Therapie einfach weiter zu spielen. Damit riskiert man eine stärkere Entzündung und Gelenksabnützung sowie mehr Bewegungseinschränkungen. Dies führt dann zu chronischen Beschwerden, die nicht mehr durch eine aktuelle Entzündung bedingt sind, und deren Behandlung dann aufwendig ist.
Vita
Prof. i.R. Dr. Michael Schirmer ist Facharzt für Rheumatologie, ab 2000 ao. Universitäts-Professor mit Lehre an der Medizinischen Universität Innsbruck. Seit 2024 ist er im Ruhestand. Der Rheuma-Experte hat eine Wahl-Ordination in Hall/Tirol mit Interesse zur Versorgungsqualität von chronischen Patienten mit seltenen rheumatischen Erkrankungen.
Dr. Peter Kaiser ist Facharzt für Orthopädie und Traumtologie. Nach zehn Jahren an der Medizinischen Universität Innsbruck arbeitet er nun in der Sportklinik Arlberg. Sein Spezialgebiet ist die Handchirurgie. Mit DTB-Verbandsarzt Dr. Tim Kinateder hat er das Buch „Tennis Verletzungen“ herausgebracht.