Trauerspiel auf dem Schiedsrichterstuhl: Immer mehr Fehler
Die Fehlentscheidungen seitens der Schiedsrichter im Tennis nehmen zu. Für einen krassen Fauxpas sorgte nun Carlos Bernardes beim ATP-Masters-1000-Turnier in Shanghai.
Ohne sie läuft nichts auf der Tour. Doch wenn Schiedsrichter in den Mittelpunkt des Interesses rücken, dann verheißt dies meist nichts Gutes. In den letzten Monaten standen die Spielleiter auf dem Stuhl vermehrt im Fokus aufgrund von teils haarsträubenden Fehlentscheidungen. Irren ist zwar menschlich, doch es fällt auf, dass die Fehlerhäufigkeit der Schiedsrichter stark zugenommen hat – vor allem auch bei den Top-Referees mit der höchsten Auszeichnung. Es ist ein Trauerspiel.
Für die nächste krasse Fehlentscheidung sorgte Schiedsrichter-Urgestein Carlos Bernardes aus Brasilien, der Ende des Jahres seine Laufbahn beenden wird. Im Match zwischen Stan Wawrinka und Flavio Cobolli beim ATP-Masters-1000-Turnier in Shanghai verzählte sich Bernardes offensichtlich – mit schwerwiegenden Folgen für Wawrinka. Was war passiert? Beim Stand von 0:1 aus Wawrinkas Sicht im dritten Satz begann der Schweizer zu servieren. Wawrinka startete mit einem Service-Winner in sein Aufschlagspiel. Bernardes gab den Spielstand laut und verständlich korrekt mit 15:0 für Wawrinka an. Anschließend sprach Bernardes kurz via Walkie-Talkie offenbar mit dem Oberschiedsrichter, um Elektrolyt-Nachschub für Cobolli anzufordern. Dabei vergaß er, den Spielstand in sein Tablet auf dem Schiedsrichterstuhl einzugeben.
Carlos Bernardes verzählt sich zu Ungunsten von Wawrinka
Den nächsten Punkt sicherte sich Cobolli. Eigentlich lautete der Spielstand 15:15, doch Bernardes verkündete laut und deutlich 0:30 aus der Sicht von Wawrinka. Auch der Spielstand 0:30 war nun im Stadion und im Fernsehen zu sehen. Besonders bitter: Der Fehler hatte massive Auswirkungen, denn Cobolli sicherte sich danach das einzige Break im Match und gewann die Partie mit 6:7, 7:6, 6:3. Besonders skurril: Weder Bernardes bemerkte seinen Fehler anschließend beziehungsweise wurde via Funk von außen darauf hingewiesen, noch Wawrinka oder sein Team beschwerten sich beim Schiedsrichter über den Fauxpas. Ob Cobolli, der schließlich davon profitierte, den Fehler bemerkte und lieber nichts sagte, darüber kann man nur spekulieren.
Follia nel match tra #Cobolli e #Wawrinka, con l’ultimo che è stato vittima di un errore dell’arbitro, che nel 2º game del 3º set, quello dove lo svizzero ha subito il break, ha concesso erroneamente un punto all’azzurro, che sarebbe dovuto andare a Stan
pic.twitter.com/M0Wb2OzVxx— SoloSport (@mondosportivo_) October 7, 2024
Es war übrigens nicht der erste Fehler dieser Art auf großer Bühne. Beim Wimbledonturnier 2004 verzählte sich Schiedsrichter Ted Watts im Match zwischen Venus Williams und Karolina Sprem. Im Tiebreak sprach er irrtümlich Sprem einen Punkt zu. Sowohl Williams als auch Sprem machten den Schiedsrichter auf diesen Fehler nicht aufmerksam, sodass es tatsächlich mit dem falschen Spielstand weiterging und Sprem das Match gewann.
Im dem neuesten Fall muss die Frage erlaubt sein, warum ein so erfahrener Spieler wie Wawrinka den Spielstand nicht weiß. Klar, Profispieler sind häufig in dem viel zitierten Tunnel und spielen Punkt für Punkt. Dass sie den Spielstand völlig ausblenden, ist allerdings zweifelhaft. Nur die Schuld auf den Schiedsrichter zu schieben, ist daher zu einfach. Dennoch darf solch ein gravierender Fehler einem erfahreneren Schiedsrichter nicht passieren. „Bernardes hätte schon vor Jahren entlassen werden sollen“, polterte Nick Kyrgios auf der Plattform X.
Kyrgios fordert Entlassung von Carlos Bernardes
So gravierend wie Kyrgios sollte man mit dieser Einschätzung nicht sein, aber es fällt deutlich auf, dass die Schiedsrichterleistungen in den letzten Jahren mit Zunahme der technischen Hilfsmittel deutlich schlechter geworden sind. Die Fehleranzahl ist enorm gestiegen. Beim Laver Cup war zu beobachten, dass Schiedsrichter Bälle, die deutlich im Aus landeten und von den Linienrichtern gut gegeben wurden, nicht sofort „overruled“ haben. Dafür mussten dann die Spieler mithilfe der Hawk-Eye-Challenge sorgen. Von einem Topschiedsrichter darf man erwarten, dass er genauer hinschaut und schnell erkennt, ob ein Ball klar im Aus war oder nicht, ob ein Ball zweimal den Boden berührt hat oder ob ein Spieler den Ball beim Schlagen zweimal berührt hat.
Der Schiedsrichter hat auf seinem Stuhl die beste Sicht auf dem Platz. Dafür ist er da, um solche Situationen richtig einzuschätzen. In den vergangenen Monaten gab es einige haarsträubende Fehlentscheidungen seitens der Schiedsrichter, obwohl in einigen Fällen sogar das elektronische Line Calling oder auch der Videobeweis zur Verfügung stand. Der Patzer von Carlos Bernardes mit dem Verzählen in Shanghai stellt all dies in den Schatten. Bei der Inflation der Fehler in der vergangenen Zeit wünscht man sich von den Schiedsrichtern generell ein bisschen mehr Mut und ein schärferes Auge trotz der technischen Unterstützung, um Fehler zu minimieren. Sonst verkommen die Schiedsrichter irgendwann nur noch zu Ansagern des Spielstandes, die sie unter Umständen dann auch noch falsch ansagen.