Craig O’Shannessy

Bild: Jürgen Hasenkopf

Craig O’Shannessy: Der Herr der Zahlen im Tennis

Tennis ist ein Sport von wiederkehrenden Mustern und Prozentsätzen. Was benötigt man, um als Sieger vom Platz zu gehen? Craig O’Shannessy kennt die Antwort. Viele Spieler profitieren von seinem Wissen, vor allem Novak Djokovic. 

Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 7/2019

Craig O’Shannessy ist ein viel gefragter Mann: vor allem bei Grand Slam-Turnieren. Zu unserem verabredeten Treffen kommt er zehn Minuten zu spät. „Sorry Leute, aber ich hatte noch ein längeres Gespräch mit Marian“, bittet er um Entschuldigung. Mit Marian ist Marian Vajda gemeint, der langjährige Trainer von Novak Djokovic. Entschuldigung akzeptiert. O’Shannessy ist seit Ende 2017 Mitglied im Team Djokovic – als Strategieanalyst. Der Australier ist so etwas wie das Zahlengenie auf der Tennis-Tour, auch wenn er sich darauf nicht reduzieren lassen möchte.

Besessen von Zahlen sei er nicht, bekräftigt O’Shannessy. „Ich bin das überhaupt nicht. Es ist eher das Gegenteil. Mathe und Statistik sind eigentlich gar nicht mein Ding. Ich bin in der Highschool beinahe in Mathe durchgefallen. Aber die Zahlen erklären und bestätigen die Strategien. Ich zeige auf, welche Strategie auf dem Platz besser funktioniert und in welchen Bereichen die Spieler besser performen. Die Strategie ist der Schlüssel zum Sieg, aber die Zahlen erklären die Strategie“, sagt er.  

Ein typischer O’Shannessy-Satz. Die Taktik des Spiels inhaliert er. Aufgewachsen in Albury, der Heimatstadt von Australiens Damen-Ikone Margaret Court, wurde er in seinem Heimatclub sogar Vereinsmeister. „Ich habe mich nach der Schule sofort auf mein Fahrrad geschwungen und bin zum Platz gefahren.“ Statt stundenlangem Training spielte er lieber Matches. „Kinder trainieren heutzutage zu viel, anstatt sich dem Wettbewerb zu stellen und viele Matches zu spielen“, doziert er. Durch seine große Matchhärte merkte er schnell, wie er Spiele gewinnen kann und warum er in bestimmten Situationen verlor. „Das sind Erfahrungen, die mir heute bei der Analyse der Matches helfen.“

Browns Wimbledon-Coup war auch Craig O’Shannessys große Sternstunde

O’Shannessy erfüllte sich an der Baylor University im US-Bundesstaat Texas seinen Traum vom College-Tennis. Nach seinem Diplom in Journalismus arbeitete er anderthalb Jahre bei der Zeitung Border Mail in Albury, ehe er als Tenniscoach aktiv wurde. Schnell machte sich der Australier einen Namen in der Szene. Er arbeitete unter anderem mit Kevin Anderson zusammen und entwickelte das Potenzial des Südafrikaners. Beim Wimbledonturnier 2015 unterstützte er Dustin Brown mit taktischen Ratschlägen. Der Deutsche warf Rafael Nadal mit „geplantem Chaos“ aus dem Turnier. Browns Coup war auch O’Shannessys große Sternstunde. 

Als die New York Times vor einigen Jahren während der US Open bei ihm bezüglich Daten zur Aufschlagstatistik anfragte, ergriff er die Chance. „Ich hatte die Daten und bot ihnen an, auch gleich den Artikel zu schreiben. Nicht viele Schreiber haben einen Trainerhintergrund. Und nicht viele Trainer haben einen journalistischen Hintergrund. Ich habe beides“, sagt O’Shannessy selbstbewusst. Er arbeitet seitdem als Datenanalyst, unter anderem für die ATP und die Grand Slam-Turniere in Wimbledon und Melbourne.

„Die meisten Geschichten drehen sich darum, wer gewonnen hat. Ich schreibe, warum jemand gewonnen hat. Ich schildere dem Leser, worauf es ankommt, um ein Match zu gewinnen.“ Man müsse verstehen, dass Tennis ein Spiel von wiedererkennbaren Mustern und Prozentsätzen ist. „Ich untersuche die Spielmuster der besten Spieler der Welt. Es geht darum, den Spielern beizubringen, mit welcher Strategie man Matches gewinnt. Sehr wichtig ist es, den Gegner aus der Komfortzone zu bringen. Ich muss den Ball dort hinspielen, wo der Gegner ihn nicht haben möchte. Vor allem Novak macht das sehr gut. Er weiß ganz genau, was er kann. Aber er passt sich auch stets an und deckt die Schwächen der Gegner gnadenlos auf.“ 

Craig O‘Shannessy: Unforced Errors abschaffen

Ein wichtiges Kriterium bei der Spielanalyse sei die Länge der Ballwechsel, sagt O‘Shannessy. „Man glaubt immer, dass jemand, der in den längeren Ballwechseln mit mehr als neun Schlägen besteht, meist auch das Match gewinnt. Aber das ist nicht immer der Fall. Viel aussagekräftiger sind die Punktgewinne bei den Ballwechseln bis zu vier Schlägen.“ Eine Statistik ist dem Australier ein Dorn im Auge: unerzwungene Fehler. „Die sind komplett nutzlos. Schafft sie ab, das würde unseren Sport zu einem besseren machen. Wir legen viel mehr Wert auf einen unerzwungenen Fehler und nicht genug auf einen erzwungenen Fehler. Für mich ist es das wichtigste Kriterium im heutigen Tennis. Es ist ein Witz, dass erzwungene Fehler in vielen Statistiken gar nicht erfasst werden“, kritisiert der Australier. 

Bei der Auswertung von Statistiken gebe es noch eine Menge zu tun, meint O’Shannessy. „Wir müssen dem Zuschauer zu verstehen geben, warum gewisse Dinge auf dem Platz passieren. Tennis ist zwar nicht altmodisch bei der Erfassung von Statistiken, aber bei der Analyse. Es gibt den Trugschluss, dass eine hohe Quote beim ersten Aufschlag optimal ist. Es kommt vor, dass ein Spieler mit einer Aufschlagquote von mehr als 70 Prozent das Match häufig verliert. Eine hohe Aufschlagquote bedeutet oft, dass ein Spieler den ersten wie den zweiten spielt.“  

Als Strategieanalyst hat O’Shannessy einen größeren Anteil daran, dass Djokovic wieder zum besten Spieler in der Welt wurde. Seine Arbeit mit dem „Djoker“ definiert er so: „Ich schaue mir an, was Novak gut macht und erinnere ihn daran, welcher Spielertyp er ist. Es geht darum, herauszufinden, was die Lieblingsspielzüge seiner Gegner in bestimmten Situationen sind und ihm das bewusst zu machen, wie er das unterbinden kann. Meine Aufgabe ist es, Sachverhalte so einfach wie möglich darzustellen.“

Craig O’Shannessy: „Mit mir würde Federer gegen Nadal in Führung liegen”

O’Shannessy ist von seiner Arbeit vollends überzeugt.  In einem Interview mit der Zeitung Il Tennis Italiano sagte er einmal: „Wenn er mit mir gearbeitet hätte, würde Roger Federer im direkten Vergleich mit Rafael Nadal in Führung liegen. Da bin ich mir zu 200 Prozent sicher.“ Einen Gewissenskonflikt, dass er gleichzeitig für Djokovic und die ATP arbeitet, sieht O’Shannessy nicht. „Ich schreibe, was ich sehe. Ich verstecke keine Dinge. Ich genieße meine Rolle als Trainer und als Journalist. Ich gebe nicht nur Novak Innenansichten über seine Gegner, ich gebe auch Fans Innenansichten, was Novak so gut macht.“  

O’Shannessy redet mit Enthusiasmus über seinen Sport. Sein Ziel: das Bewusstsein schärfen, was es benötigt, um erfolgreich auf dem Platz zu sein und dadurch die Qualität zu steigern. „Es gibt viele gute Spieler, aber sie trainieren die falschen Dinge. Sie spielen Vorhandcross, bis ihre Hände bluten. Das hilft dir allerdings nicht, um ein besserer Spieler zu werden und Matches zu gewinnen. Die Evolution passiert auf dem Trainingsplatz. Wenn immer mehr daran gearbeitet wird, worauf es im Match wirklich ankommt, dann wird sich die Qualität unseres Sports deutlich verbessern.“

Craig O‘Shannessy

Grand Slam-Talk: tM-Redakteur Christian Albrecht Barschel traf Craig O‘Shannessy bei den Australian Open.Bild: Jürgen Hasenkopf

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