Foro Italico

Stolz der Nation: Flugshow über dem Foro Italico in Rom. Das Nicola Pietrangeli-Stadion (im Vordergrund) gilt als eines der schönsten der Welt. Bild: FITP

Fantastico: Die Gründe für den Tennis-Boom in Italien

Im italienischen Tennis läuft es wie am Schnürchen. Jannik Sinner ist die Nummer eins der Welt. Die ATP-Finals steigen in Turin. Und die Azzurri sind amtierende Davis Cup- und Billie Jean King Cup-Champions. Was steckt hinter dem Boom? 

Ein Treffen in München anlässlich des vom Deutschen Tennis Bund initiierten Internationalen Tenniskongresses (ITK). Donato Campagnoli ist einer der Topcoaches Italiens. Beim ITK repräsentiert der 54-Jährige den italienischen Tennis- und Padelverband (FITP). Eben hat er noch über das „Sistema Italia“ referiert. Jetzt sitzt er auf einer stylischen, grünfarbenen Couch in der Bar des Infinity Hotel & Conference Resorts. 

Viel Zeit hat Donato, gekleidet in einen Trainingsanzug mit grün-weiß-rotem Farbzug und FITP-Logo, nicht. Der Mann ist busy, vor allem seitdem alle wissen wollen, warum das italienische Tennis so erfolgreich ist. Deshalb nur ein kurzes Meet-and-Greet. Wir verabreden uns für einen Videocall. Ein kerniger Händedruck und weg ist er. Das nächste Mal sehen wir uns auf einem Bildschirm.

Das „Sistema Italia”

„Sistema Italia“ – das italienische System. Zwei magische Wörter, die erklären sollen, warum im Land des Stiefels im Moment alles tutto bene ist, wenn es um die gelbe Filzkugel geht. Die vielleicht wichtigste Person dabei heißt Michelangelo Dell’Edera, der Direktor des Aus- und Fortbildungsinstituts. Im Italienischen klingt es wie ein Kunstwerk: Istituto Superiore di Formazione. 2011 hat Dell‘Edera das Sistema Italia eingeführt.

Klar, eine Nummer eins kann man nicht planen. Genauso wenig wie das deutsche Tennis Boris Becker und Steffi Graf erfinden konnte. Jannik Sinner ist eines dieser Phänomene, welches man mit Verbandsarbeit nicht erklären kann. Es ist eher das „Sistema Sinner“. Aber sonst? Aktuell stehen zehn italienische Herren unter den Top 100 der Weltrangliste. Die Azzurri sind amtierende Champions beim Davis Cup und Billie Jean King Cup. Die ATP-Finals in Turin boomen. Ab nächstem Jahr spielen die besten acht Herren in Mailand, weil die Turiner Inalpi Arena, in die „nur“ 12.000 Zuschauer reinpassen, aus den Nähten platzt.

Jannik Sinner

Globaler Superstar: Im Januar in Melbourne gewann Jannik Sinner seinen dritten Grand Slam-Titel. Seit mehr als 42 Wochen ist er die Nummer eins der Welt.Bild: Imago/Chil Chen

All das kann kein Zufall sein. Für Stefano Semeraro, Chef von Il Tennis Italiano, dem italienischen Pendant zum tennis MAGAZIN, waren die ATP Next Gen Finals, die erstmals 2017 in Mailand ausgetragen wurden, „das erste große Zeichen“, dass im italienischen Tennis etwas passiert. 2018 schlug Marco Cecchinato Novak Djokovic bei den French Open und kam ins Halbfinale – ein Vorgeschmack auf das, was in den nächsten Jahren in Bella Italia passieren sollte. 

„2001 wurde das ganze System reformiert”

Inzwischen sei alles „folle“, völlig verrückt. Als Lorenzo Sonego, Nummer 38 der Welt, in Melbourne in die zweite Runde einzog, berichteten die großen TV-Sender Rai und Canale 5 darüber. „Die zweite Runde! Früher hätte es kein Schwein interessiert“, sagt Semeraro, der seit mehr als 30 Jahren im Geschäft ist. Als Mattia Bellucci, Nummer 72 der Welt, in Rotterdam Daniil Medvedev und Stefanos Tsitsipas schlug, kam sein Foto auf die Titelseite des Corriere della Sera, der meistgelesenen Tageszeitung Italiens – undenkbar noch vor ein paar Jahren.

„Im Jahr 2000 war unser Verband kaputt“, sagt Donato Campagnoli, „2001 wurde das ganze System reformiert.“ Im Einzelnen ging es um Talentförderung, Trainerausbildung, die Stärkung der Leistungszentren, den Ausbau der Turnierlandschaft, Einbindung von Sponsoren, Tennis im Fernsehen und als Kirsche auf der Torte das Masters in Rom, das dem Verband gehört. 

„Wir hatten dort kaum Zuschauer“, sagt Campagnoli und spricht von einer „sehr dunklen Zeit“ für das italienische ­Tennis. Mit Zahlen unterfüttert liest es sich so: 2004 gab es gerade einmal 58.127 Zuschauer bei den „Internazionali BNL d‘Italia“. 20 Jahre später strömten 358.605 Fans ins Foro Italico. In diesem Jahr wird sicherlich die 400.000-Zuschauer-Marke geknackt.

SuperTennis: Eigener Fernsehkanal in Italien

Der Mann, der laut Campagnoli „maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Elitesportart Tennis zu einer populären Sportart wurde“, heißt Angelo Binaghi, 64. Gerade wurde der Sarde bis 2028 im Amt des FITP-Präsidenten bestätigt. Für den Verband arbeitet der Ex-Profi und studierte Ingenieur seit Beginn der 2000er-Jahre. Auch wenn Binaghi ehrenamtlich tätig ist – unter seiner Ägide professionalisierte sich das italienische Tennis in allen Bereichen. 

Binaghis vielleicht größter Coup: 2009 schuf die FITP mit SuperTennis ihren eigenen Fernsehkanal. 24 Stunden am Tag laufen dort Tennis und Padel im Free-TV. „Das ist revolutionär. So etwas gibt es nur in den USA“, sagt Campagnoli. Die Bilder flimmern gratis in die italienischen Haushalte. Als Jannik Sinner 2024 die US Open gewann, sahen das zwei Millionen Italiener auf SuperTennis. 

Tennis in Italien

Alles in einer Hand: Italien ist amtierender Davis Cup- und Billie Jean King Cup-Champion. Angelo Binaghi (2.v.li.), Präsident der FITP, ist einer der Väter des Erfolgs.Bild: Imago/Nick Zonna

Die TV-Werbeerlöse und die Einnahmen aus dem ATP- und WTA-Masters von Rom fließen in die Verbandskasse und werden wieder investiert – in Talente, Trainer und Turniere. „Seit einigen Jahren haben wir das Konzept des Projekts eingeführt“, sagt Campagnoli. Das „Projekt“ ist der Spieler. Um ihn herum gibt es Haupttrainer, Co-Trainer, Physios, Mentaltrainer. Projekte müssen beim Verband eingereicht und genehmigt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Verband oder eine private ­Initiative dahinterstehen.

Tennis in Italien: Alle ziehen an einem Strang

„Aktuell gibt es 130 Projekte“, sagt Campagnoli. Es sind in der Regel zwölf- bis 16-jährige Talente, die in Abstimmung mit der FITP in den nationalen Leistungszentren ausgebildet werden – die Jungen in Tirrenia in der Toskana, die Mädchen in Formia, rund zwei Stunden südlich von Rom. Wird ein Projekt abgesegnet, sind Turnierreisen nach Deutschland, Slowenien oder Kroatien inkludiert. Der Haupttrainer verfügt über ein Budget, mit dem er alles bezahlt – Trainingsplätze, Trainer, Hotels, Essen, Fahrtkosten – , und die Rechnungen dann beim Verband einreicht. Mittlerweile ist auch die nationale Turnierlandschaft so gut ausgebaut, dass es diverse Möglichkeiten in Italien gibt, sich mit den Besten seiner Altersklasse zu messen. 

Entscheidend dabei ist: Der Verband arbeitet nicht im Wettbewerb mit privaten Akademien. Alle ziehen an einem Strang. „Unser Problem war früher fehlende Kommunikation“, sagt Campagnoli. Inzwischen seien die verschiedenen Ausbildungs- und Entwicklungssysteme bestens vernetzt. 

Eine andere Revolution ist eine Datenbank, in der tausende von talentierten Kindern und Jugendlichen zwischen sieben und 17 Jahren geführt werden. Gepflegt wird sie von lokalen, regionalen und nationalen Coaches. „Es hat uns eine Ewigkeit gekostet, diese Daten zu erstellen“, sagt Campagnoli. Entdeckt etwa ein Trainer an der Basis ein talentiertes Kind, hat er die Möglichkeit, einen Verantwortlichen vom Verband anzurufen. Dieser checkt das Niveau. Ist das Kind gut genug, wird es in die Liste eingepflegt.

14.000 zertifizierte „Lehrer” beim italienischen Verband

Drei Level gibt es in der Datenbank. Das Topniveau bilden die besten 40 Talente Italiens in ihrer Altersklasse – 20 Mädchen und 20 Jungen. Die zweite Ebene umfasst bis zu 60 weitere Spieler. In Ebene drei gibt es noch einmal bis zu 300 Mädchen und 300 Jungen. „Es ist ein Open-Door-System“, erklärt Campagnoli. Was er damit meint: Talente können rein- und rausrutschen. Und: Auch für Spätentwickler, die erst als 19-Jährige entdeckt werden, ist die Tür offen. 

Gestärkt wird die Qualität des italienischen Tennis auch durch Gütesiegel, die für Tennisschulen vergeben werden. In fünf Kategorien sind die Akademien unterteilt: Basis, Club, Standard, Super- und Top-Schule. Die besten Schmieden bekommen von der FITP am Jahresende Preisgelder oder Equipment.

Für Trainer gibt es landesweit vier Ausbildungskurse. Einen Freifahrtschein für Ex-Profis gibt es nicht. Auch sie müssen sich in einem eigenen Kurs für „Ehemalige Spitzenspieler“ qualifizieren, bevor ihnen Talente anvertraut werden. Ein Kurs richtet sich speziell an Trainer unter 35 Jahren. Mehr jüngere Trainer zu gewinnen, ist eines der Ziele des Verbandes. Laut Campagnoli gibt es unter den Coaches keine „nine-to-five“-Mentalität. 14.000 zertifizierte „Lehrer“ sind allein bei der FITP registriert. Der berühmteste heißt ­Riccardo Piatti. In seiner Akademie in Bordighera hat er Jannik Sinner zum Top 10-Spieler geformt. „Die Trainer arbeiten wie besessen. Sie trainieren von acht Uhr morgens bis mittags und dann wieder abends, dazwischen arbeiten sie im Büro und am Wochenende sind sie auf Turnieren“, sagt Campagnoli. Die Rechnung sei ganz einfach: Bessere Vereine und bessere Trainer führen zu besseren Spielern.

Davis Cup-Finals bis 2027 in Bologna

Extrem hart habe man in den letzten Jahren gearbeitet. Die Früchte hat man geerntet. Während die Mitgliedszahlen in vielen anderen Tennisverbänden weltweit stagnieren, wachsen sie in Italien rasant – in knapp zehn Jahren um mehr als das Dreifache. Tennis in kommerziellen Anlagen ist dabei gar nicht berücksichtigt. Schätzungen gehen davon aus, dass fünf Millionen Italiener aktiv Tennis spielen. Knapp 17 Millionen lieben den Sport. In der Liste der beliebtesten Sportarten ist Tennis die Nummer zwei – auch dank der Dauer-Beschallung durch SuperTennis. Verbandschef Binaghi träumt davon, dass Tennis bald Fußball vom Spitzenplatz verdrängen könnte. Doch das wird bei den fußballverrückten Tifosi wohl nicht passieren.

Foro Italico

Historisch:Die Macher von Rom träumen jetzt von einem Grand Slam-Turnier.Bild: Imago

Klar, dass die Kinder auch zum Racket greifen, weil sie Jannik Sinner nacheifern wollen. Er hat Italien zweimal in Folge den Davis Cup und drei Grand Slam-Titel geschenkt. Letzten November gewann er auch die ATP-Finals in Turin. Von 2025 bis 2027 werden die Davis Cup-Finals in Bologna ausgetragen – auch dank Sinner.

Sieht man sich die Statistiken an, beeindruckt, dass Italien in puncto Teilnahmen bei Junioren Grand Slam-Turnieren seit Jahren spitze ist. 2023 repräsentierten neun Jungs Italien in den Hauptfeldern. 20 Italiener rangierten unter den Top 250. Keine Nation war besser. Die Erfolgsgeschichte setzt sich bei den Herren fort – mit Sinner, Musetti, Berrettini, Arnaldi, Sonego, Cobolli, Darderi, Bellucci, Nardi, Passaro und Fognini in den Top 100. „Wir haben mehr als 80 Spieler in den Top 1000. Nur die USA und Frankreich sind besser“, sagt Campagnoli. Gerade in dem Alter zwischen 19 und 24 sind die ­Italiener absolute Weltklasse.

61 ITF-Turnier gibt es in Italien

Die nächste Generation ist schon in den Startlöchern. Insgesamt 61 ITF-Turniere gibt es in Italien – die ideale Spielwiese für angehende Profis. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 35 für Damen und Herren. Campagnoli mahnt trotzdem: „Wir dürfen uns auf den bisherigen Erfolgen nicht ausruhen. Wir müssen noch mehr Geld, Zeit, Energie, Personal und technischen Fortschritt wie Künstliche Intelligenz in unser System investieren.“

Es gibt noch ein Projekt in Italien. Es klingt absurd. Die Italiener wollen in Rom ein fünftes Grand Slam-Turnier ausrichten. Dem Turnier in Madrid soll man schon ein Angebot zur Übernahme des Masters von Madrid gemacht haben, um sich die nötige Zeitspanne im Kalender zu blocken. 550 Millionen Dollar liegen angeblich auf dem Tisch. In fünf bis zehn Jahren könnte das Projekt laut italienischen Medienberichten Realität sein. Die dafür nötigen drei bis fünf neuen Plätze könnten im Olympiastadion entstehen. 2032 findet in Italien die Europa-Meisterschaft im Fußball statt. Dafür wird ein neues Stadion gebaut, das historische Olympiastadion wird dann nicht mehr benötigt. Kompletter Unsinn? Zumindest lassen die Regularien des ehrwürdigen Grand Slam-Komitees ein fünftes Major zu.

Zukunftsmusik. Auch so ist im ­italienischen Tennis zurzeit so ziemlich alles – fantastico!

Das Geheimnis der FITP

Seriensieger Sinner, Erfolge im Davis- und Billie Jean King Cup, Topturniere in Turin, Bologna und Rom – das italienische Tennis erfährt einen Boom wie noch nie. Für tennis MAGAZIN hat Donato Campagnoli die grün-weiß-roten Meriten analysiert. Der Berater der FITP (Federazione Italiana Tennis e Padel) ist weltweit in Sachen italienisches Tennis unterwegs. Der vielfach ausgezeichnete Trainer und Workshop-Leiter für Technik und Biomechanik im italienischen Verband bietet diverse Dienstleistungen an:

• für Spieler: Match-/Technikanalyse, Trainings-/Wettkampfplanung, Unterstützung des Cheftrainers, Dienste als Travelling Coach, spezialisierte Clinics

• für Clubs: detaillierte Analyse der Leistungskennzahlen, Businessplanung, Fortbildung Trainerstab

• für Trainer: maßgeschneiderte Kurse zur Verbesserung des Know-how, Fortbildung Trainerstab, Clinics und Events.

Mehr Infos auf Instagram unter: @donatocampagnoli

Donato Campagnoli

Intimer Kenner: Donato Campagnoli (54) ist seit 2002 Berater der FITP. 2014 war er in Italien „Trainer des Jahres“.Bild: Datenbank