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Auslaufzone voll ausnutzen: Auch in Cincinnati 2023 gegen Alexander Zverev erwartete Daniil Medvedev den Aufschlag fast am Zaun und stand gut sieben Meter hinter der Grundlinie. (Foto: Oliver Hardt)

Der Return von Daniil Medvedev: Von gaaaanz weit hinten

Kein anderer Profi erwartet die Aufschläge des Gegners in einer so extremen Defensivposition wie Daniil Medvedev. Was bringt ihm diese Taktik?

Wer häufig ­Herrentennis im TV/Stream schaut und dabei auch ­Partien von Daniil Medvedev verfolgt, wird sich bestimmt schon einmal die Frage gestellt haben: Wo isser denn jetzt, der Medvedev? Seine Returnposition verlagert er oft so weit nach hinten, dass ihn – je nach Perspektive und Ausmaß des Courts – manche Kamera nicht mehr einfängt. Es sieht dann manchmal so aus, als würde sein Gegner einen Aufschlag in eine leere Platzhälfte ­abfeuern, bis dann wie aus dem Nichts plötzlich doch der Ball zurückkommt und Medvedev wieder ins Bild rückt. Auch wenn defensivere Return­positionen durchaus im Trend auf der ATP-Tour sind: Niemand steht so weit hinten wie Medvedev.

Medvedev: An der Spitze der Return-Statistik

Der Erfolg seiner Taktik gibt ihm Recht. In der Gesamt-Returnstatistik der ATP für die Saison 2023 liegt Medvedev an der Spitze vor Carlos Alcaraz und Novak Djokovic. Vier Parameter („gewonnene Returnspiele“, „verwertete Breakbälle“, „gewonnene Punkte beim ersten Aufschlag“ und „gewonnene Punkte beim zweiten Aufschlag“) fließen in die ­Statistik ein. Medvedev nutzt am effektivsten seine Breakchancen (46,4 Prozent) und gewinnt die zweitmeisten Returnspiele auf der Tour (31,4 Prozent; Carlos Alcaraz liegt bei 31,8 Prozent).

Medvedev Return

Wenige Ausnahmen: Im Endspiel von Toronto 2021 entschärfte Medvedev die Aufschläge von Reilly Opelka systematisch mit Returns von weit hinten – nur dreimal nahm er sie früh.

ATP-Zahlenguru Craig O‘Shannessy attestiert, dass Medvedev mit seiner ­Taktik althergebrachte Vorstellungen des Returnspiels „komplett über den ­Haufen schmeißt“. O‘Shannessy erklärt das so: „Er wandelt durch seine tiefe Position den ­klassischen Block-Return in einen Pseudo-Grundschlag um.“ Denn wenn Medvedev bis zu sieben Meter hinter der ­Grundlinie steht, verschafft er sich mehr Zeit für seinen Return. Dadurch kann er einerseits den Aufschlag des Gegners länger austrudeln lassen, wodurch dieser an Wucht verliert. Andererseits kann er seinen Konter nun wie einen Grundschlag spielen – mit großer Ausholbewegung, wodurch er den Ball beschleunigen kann. Das ist insbesondere beim ersten Aufschlag eine Umkehr der Verhältnisse.

Medvedevs Return: Fast wie normale Grundschläge

Wer beim ersten Aufschlag nah an der Grundlinie steht, kann ihn meist nur blocken. Das heißt: Der Return ist eher langsam und lebt vor allem vom Tempo des gegnerischen Aufschlags. Medvedev hingegen erreicht Geschwindigkeiten beim Return des ersten Aufschlags, die seine Widersacher höchstens beim Return des zweiten Service erreichen. Er kann selbst Tempo beim Return generieren. Das ergaben entsprechende Messungen etwa bei den ATP-Finals 2020, als Medvedev den Titel holte. Damals drosch er die Returns von ersten Aufschlägen im Mittel mit knapp 110 Stundenkilometern über das Netz. Seine Kontrahenten (Nadal, Djokovic, Zverev, Thiem und Schwartzman) kamen im Durchschnitt „nur“ auf etwa 90 Stundenkilometer.

„Schwierig Asse gegen ihn zu schlagen“

Eine zusätzliche Stärke im Returnspiel von Medvedev ist dessen Länge bei den parierten Aufschlägen. Das fand eine ATP-Auswertung innerhalb der Top 10 heraus. Im Durchschnitt landen 39 Prozent der Returns von den Topspielern näher an der Grundlinie; 61 Prozent kommen dagegen näher an der T-Linie auf. Medvedev bringt 43 Prozent seiner Returns nahe der Grundlinie unter (s. Tabelle unten links), obwohl seine Bälle eine viel längere Strecke zurücklegen müssen. Das Besondere aber ist, dass Medvedev bei eher kürzeren Returns so viele Punkte macht wie kein anderer Top 10-Spieler (s. Tabelle unten Mitte). Klar ist, dass die Returns, die eher an der T-Linie landen, vom Aufschläger attackiert werden. Das sind die Situationen, in denen Medvedev seine großen Defensivkünste unter Beweis stellt. Statistik-Mann O‘Shannessy ergänzt: „Weil Medvedev bereits tief steht, wird er nicht so sehr gestresst oder auf den hinteren Fuß gedrängt wie ein typischer Returnspieler, der nah an die Grundlinie steht.“

Medvedev Return

Ist die tiefe Returnposition nun das Wundermittel gegen die immer ­zügigeren Aufschläge im Herrentennis? tennis MAGAZIN-Experte Dieter Kindlmann, der den Schweizer Dominic Stricker trainiert, glaubt daran nicht: „Eine so extreme Returnposition passt nicht automatisch zu jedem. Für gewisse Spielertypen eignet sie sich, aber nicht jeder Profi kann von so weit hinten so einen Druck beim Return ausüben wie Medvedev.“ Für den Aufschläger sei es zwar „schwieriger Asse zu servieren“ und die Option des „Bodyserves“ (Aufschlag auf den Körper) falle auch „komplett weg“, sagt Kindlmann, aber es bliebe noch die Serve-and-Volley-Option, um den weit hinten stehenden Returnspieler zu überrumpeln. „Returns als Passierbälle von so weit hinten zu spielen, ist schon eine echte Herausforderung“, meint Kindlmann.

Medvedev will Returntaktik weiter perfektionieren

Diese Erfahrung musste 2023 auch schon Medvedev selbst machen, als er in Indian Wells auf seinem geliebten Hardcourt im Finale gegen Carlos Alcaraz 3:6, 2:6 unterging. Der Spanier mixte in seine Aufschlagspiele immer wieder Serve-and-Volley-Attacken. Medvedev wusste nie, was Alcaraz vorhatte und wirkte beim Return ziemlich verunsichert. Doch der ehemalige Weltranglistenerste wird aus der Niederlage seine Lehren gezogen haben und perfektioniert seine Returntaktik stets weiter.

Medvedev Return

Defensivkünstler: Durch seine Returnposition weit hinter der Grundlinie hat Daniil Medvedev oft Zeit dafür, fast normale Grundschläge zu spielen.

Medvedev: „Jeder muss für sich selbst herausfinden, von wo er am besten returniert“

Dem Podcast „Match Point Canada“ gab er im August 2023 spannende Einblicke in die Entwicklung seines Returnspiels. Es gehe, so Medvedev, immer darum Wege zu finden, um ein Match zu gewinnen: „So bin ich auf die tiefe Returnposition gekommen, aber letztlich muss jeder selbst herausfinden, von wo aus er am besten returniert.“ Medvedev räumt ein, dass es – „wie bei jeder Tennistaktik“ – Vor- und Nachteile auch bei seinem Returnspiel gäbe: „Positiv ist, dass ich viel mehr Zeit für meine Schläge habe. Negativ ist, dass ich nach dem Return viel rennen muss, weil mein Feld offen ist. Aber daran habe ich mich gewöhnt und ich trainiere diese Abläufe systematisch. Ich gehe im Training manchmal sogar noch weiter nach hinten, um alle Möglichkeiten dieser Taktik auszuloten.“ Am Ende gibt Medvedev zu, dass er gegen Carlos Alcaraz noch nicht seine ­Idealposition gefunden habe, „aber das wird sich mit der Zeit sicher ergeben“.

Und tatsächlich: Schon im Halbfinale der US Open 2023, als Medvedev in vier Sätzen gegen Alcaraz gewann, profitierte er enorm von seiner nun idealen Returnposition beim Aufschlag des Spaniers. „Es war schon erstaunlich, wie er von so weit hinten mit so viel Power returnieren kann“, lobte Alcaraz nach seiner Niederlage. „Selbst wenn ich Serve-and-Volley gespielt habe, konnte er zu oft mit seinen Passierschlägen punkten.“ Medvedev gelangen drei Breaks und er machte 50 Punkte beim Aufschlag des Gegners. Alcaraz hingegen breakte seinen Rivalen nur einmal und punktete beim gegnerischen Service nur 38-mal. „Es war definitiv eines der besten Matches meiner Karriere“, sagte Medvedev nach seinem Finaleinzug.

Medvedev bei den US Open 2023: „Hätte meine Returnposition verlagern müssen“

Im Endspiel gegen Novak Djokovic allerdings drehten sich die Verhältnisse komplett. Natürlich: In einem Grand Slam-Finale rückt die mentale Komponente noch stärker in den Vordergrund. Schaut man sich aber nur den spielerischen Verlauf der Partie inklusive der Statistik an, dann lag der klare Drei-Satz-Triumph von Djokovic vor allem an einem Faktor: der zu defensiven Returnposition von Medvedev. 22-mal spielte Djokovic in dem Match Serve-and-Volley und machte 20-mal den Punkt. Insgesamt tauchte der Serbe 44-mal am Netz auf (37 Punkte). Es war die perfekte Taktik, auf die Medvedev keine passende Antwort fand. Nach seiner Niederlage gab sich Medvedev selbstkritisch: „Ich habe es nicht geschafft, gut genug zu returnieren – gar nicht mal wegen seiner guten Aufschläge. Es lag mehr an mir. Ich hätte weniger stur sein sollen und früher meine Returnposition nach vorne verlegen müssen.“

Bei den Australian Open 2024 könnte es nun zu den Re-Matches kommen. Medvedev ist in der unteren Hälfte und könnte im Halbfinale wieder auf Alcaraz treffen. Der mögliche Finalgegner könnte dann wieder Djokovic sein. Sollte es zu diesen Partien kommen, wird die Returnposition von Medvedev bestimmt wieder eine entscheidende Rolle einnehmen.