Neuroathletik im Tennis: Alle Sinne geschärft
Viele Profis schwören auf das Training der Sinnesorgane. tennis MAGAZIN hat Neuroathletik auf dem Platz getestet.
Es ist im Spitzensport stets die Rede davon, die letzten Prozentpunkte herauszukitzeln, um der bestmögliche Athlet zu werden – sei es bei der Ernährung, im mentalen Bereich oder im Athletiktraining. Ein weiterer Trainingsaspekt wird immer beliebter bei Sportlern, vor allem bei Tennisprofis – das Training der Sinnesorgane.
Die Rede ist hierbei von Neuroathletik, dessen Methode für viele Athleten ein Aha-Erlebnis darstellt. Neuroathletik ist ein Begriff, den der studierte Sportwissenschaftler Lars Lienhard im Jahr 2014 kreiert hat, als er mit der deutschen Fußballnationalmannschaft auf dem Weg zum Weltmeistertitel in Brasilien arbeitete.
Lars Lienhard kreiert Neuroathletik
„Neuroathletik war erst mal eine Tätigkeitsbeschreibung meiner Arbeit – keine Methode. Ich habe dieses Wort gewählt, weil das Athletiktraining die physischen Komponenten des Athleten auf die Wettkampfsituation vorbereitet. Die Frage ist: Was muss der Körper können, um der Sportart Rechnung zu tragen? Im Tennis sind dies beispielweise die schnellen Zwischenschritte, die Sidesteps, oder tiefe Bewegungen wie Kniebeugen für die Grundposition“, erzählt Lienhard, als tennis MAGAZIN den 53-jährigen Rheinländer auf den Plätzen des SC Union in Hamburg zum Praxistest trifft.

Befreites Aufspielen: tennis MAGAZIN-Redakteur Christian Albrecht Barschel nahm nach den Übungen den Ball deutlich klarer und langsamer wahr.Bild: Valeria Witters
„Die Neuroathletik schaut sich an, wie gut das Gehirn bestimmte Bewegungsprogramme regulieren kann: Was können die Augen, was kann das Gleichgewicht, wie beweglich sind die Gelenke? Man kann noch so einen trainierten Körper haben, aber wenn mein Blick den Ball, der nach rechts geht, nicht nach rechts verfolgen kann, dann hat das Gehirn unabhängig davon, wie gut meine Technik ist, wie gut meine körperlichen Komponenten sind, Probleme, den Körper zum Ball hinzuführen, weil die Raumtiefe eventuell nicht stimmt. Man stellt sich stets die Frage: ‚Hey Gehirn, was brauchst du?‘ Und dann wird es durchgetestet. Das ist bei jedem Athleten anders“, referiert Lienhard.
Zverev & Co. trainieren mit Neuroathletik
Zahlreiche Spitzensportler vertrauten in den letzten Jahren auf die Expertise von Lienhard, darunter die Triathletin Laura Philipp, die vergangenes Jahr die Ironman World Championships gewann. Bei den Tennisprofis kreuzten unter anderem Alexander Zverev, Kevin Krawietz, Dominic Thiem, Belinda Bencic und Anastasia Pavlyuchenkova die Wege mit Lienhard.
„Ich lerne, wie ich mit meinem Kopf und meinem Körper umgehe. Ich bin einer der stärksten Spieler auf der Tour. Ich kann das meiste Gewicht heben und kann einen der schnellsten Sprints laufen. Aber wie übertrage ich das auf den Tennisplatz? Das ist für mich immer das größte Interesse gewesen. Es gab eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, dass ich meinen Körper nicht unter Kontrolle habe. Ich war zu fest, zu steif und in manchen Bewegungen limitiert. Das Neuroathletik-Training bringt mir bei, wie ich diese Kraft und die stundenlange Arbeit im Fitnessstudio auf dem Tennisplatz anwenden kann. Das fasziniert mich. Du lernst dadurch deinen Körper völlig anders kennen“, berichtete Zverev im Jahr 2021 von seinen Erfahrungen mit Neuroathletik.

Mehr Schwung: Bei tennis MAGAZIN-Redakteur Tim Böseler war nicht die Rückhand das Problem, sondern das Angleiten zum Schlag.Bild: Valeria Witters
„Die Grundlage von Neuroathletik ist die Arbeit von Doktor Eric Copp. Dieser Chiropraktiker hat es geschafft, die Forschungen in der Neurologie anwendbar darzustellen“, sagt Lienhard. Sein Credo für den Tennissport: Funktionieren die Sinnesorgane leicht, dann fühlt sich auch das Spielen deutlich leichter an.
Das Gehirn ist so etwas wie ein unterschätzter Muskel im Sport. „Das Gehirn ist der CEO. Es bestimmt, was im Körper ankommt. Der Körper führt nur aus. Wenn die Informationen nicht klar sind, wenn ein Auge etwas anderes sagt als das andere Auge, dann wird die Handbremse angezogen, um den Organismus zu schützen“, erzählt er.
Neuroathletik als Gamechanger
Neuroathletik hilft dabei, die PS, die man ohnehin bereits hat, auf die Straße oder besser gesagt auf den Tennisplatz zu bringen. Und: Das Training der Sinnesorgane kann verletzungsvorbeugend sein. „Der Zugang über das Gehirn geht so viel schneller an das Symptom. Verklebte Faszien oder ein verspannter Nacken haben neuronale Hintergründe. Das bekommt man schnell gelöst“, sagt Lienhard.
Neuroathletik kann nicht nur im Profisport ein sogenannter Gamechanger sein. „Würde man bereits ab Jugendalter neurozentriert spezifischer arbeiten, wüsste man erst, was das Training wirklich kann. Es gehört auch in den Reha- und Amateurbereich“, sagt Lienhard.
tennis MAGAZIN hat sechs neuroathletische Übungen getestet und stellt sie vor.

Training von Gehirn und Nerven: Lars Lienhard (mittig) trainiert in der Regel mit Profisportlern. Den tennis MAGAZIN-Redakteuren Tim Böseler (li.) und Christian Albrecht Barschel brachte er die Wirkungsweise von Neuroathletik für Tennisspieler näher.Bild: Valeria Witters
Übung: Ausfallschritt – Fixierter Blick
Man fixiert einen bestimmten Buchstaben auf einer Sehtafel (Fachbegriff: Snellen chart, kostenloser Download aufs Smartphone), den man scharf, aber gut erkennen kann. Anschließend geht man mit einem Ausfallschritt auf die linke oder rechte Seite. Wichtig: Die Ausfallschritte sollten nur so schnell ausgeführt werden, wie das Auge die Konturen des Buchstaben die gesamte Zeit scharf halten kann, es die Blickstabilisation also zulässt. Dadurch erzielt man die größten Effekte.

Sehtafel als Hilfsmittel: Mit dieser Übung wird das Angleiten zum jeweiligen Grundschlag trainiert.Bild: Valeria Witters
Mit dem Ausfallschritt geht man mit in den Raum, in dem man Schwierigkeiten mit dem jeweiligen Grundschlag hat. Im abgebildeten Fall wäre es die Rückhand bei einem Rechtshänder (Ausfallschritt nach links). Bei Linkshändern gilt es andersrum. Ein Ausfallsschritt nach links trainiert hier die Vorhandbewegung. Das Ziel ist die Blick- und Haltungsstabilisation in einer Beschleunigung über das Training des Gleichgewichtssystems, das bei den Grundschlägen benötigt wird. Die Zielorgane sind die Makularorgane (Teil des Gleichgewichtssinns im Innenohr).
Übung: Letter Ball Catching – Scharfes Sehen
Wir haben diese Übung, die im Fachjargon Letter Ball Catching heißt und von vielen Tennisprofis praktiziert wird, in der schwersten Variante getestet. Die Brille ist eine Stroboskopbrille. Durch das Verdunkeln nimmt man die visuellen Kernmerkmale schneller und besser wahr, die im Match entscheidend sind. Die Übung kann aber auch problemlos ohne Stroboskopbrille durchgeführt werden. Auf dem Ball stehen verschiedene mit einem Edding versehenen Buchstaben.
Wichtig ist, dass der Ball vom Spielpartner nicht mit Spin geworfen werden darf, weil man sonst die Buchstaben nicht wahrnimmt. Der Ball soll beim Verlassen der Hand bis zum Fangen beobachtet werden. Perfekt ist es, beim Fangen den Buchstaben zu nennen, der in die Hand gefallen ist. Somit hätte man gewährleistet, dass die Augen bis zum Schluss auf dem Ball waren. Es dient dazu, die Augen durch die Saiten des Schlägers auf den Ball bis zum Schlag zu fixieren. Roger Federer ist hier das Paradebeispiel.

Augen auf den Ball: Dieses Credo sollten Tennisspieler generell stets verfolgen, um gut zu spielen.Bild: Valeria Witters
Das Ziel ist es, den Ball mit seinen Buchstaben die gesamte Zeit scharf zu sehen. Es gibt einen großen Unterschied zum peripheren Sehen, das permanent aktiv ist. Beim peripheren Sehen ist die Sehgrube allerdings nicht auf dem Ball. Wenn ich beim Sehen auf den Buchstaben achten muss, dann muss ich den Ball zwingend scharf sehen. Es sind zwei unterschiedliche visuelle Systeme. Je besser das scharfe Sehen funktioniert, desto klarere Informationen bekommt das Gehirn. Durch diese Übung trainiere ich die Augen, um die Bewegung des Balles zu verfolgen. Außerdem bekommt das Gehirn eine bessere Raumorientierung.
Übung: Brock-Schnur – Binokulares Sehen
Man nimmt als Hilfsmittel eine sogenannte Brock-Schnur – benannt nach dem Schweizer Optometristen Frederick W. Brock. Man schaut auf die Brock-Schnur, deren Kugeln einen Abstand von 20 bis 40 Zentimetern haben. Wenn beide Augen perfekt auf das Objekt ausgerichtet sind, sieht man zwei Schnüre, die in die Kugel hineingehen und aus der Kugel wieder herauskommen. Das Ziel ist es, von Kugel zu Kugel zu springen und immer ein klares beidäugiges Bild zu erhalten.
Diese Übung kann in spezifischen Positionen durchgeführt werden, zum Beispiel bei der Vorhand- und Rückhandbewegung. Die Ausgangsvariante wäre stets in einer Standposition. Diese Übung verbessert das binokulare Sehen und die Raumtiefe. Ein deckungsgleiches Bild mit beiden Augen zu erzeugen, ist einer der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Fähigkeit, des Sehens. Liefern die Augen unterschiedliche Informationen über die visuellen Kernmerkmale des Objekts, kann es passieren, dass das Gehirn die Informationen eines Auges bevorzugt und die Informationen des anderen Auges nach und nach ausblendet.

Räumliche Wahrnehmung: Das binokulare Sehen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten für einen Tennisspieler.Bild: Valeria Witters
Dieser Informationsverlust führt dazu, dass Raumtiefe und Bewegungen des Objekts, in dem Fall der zu spielende Tennisball, nicht mehr korrekt eingeschätzt werden können. Mit der Brock-Schnur wird trainiert, dass beide Augen exakt auf dem Ball sind, was man mit der Übung Letter Ball Catching nicht feststellen kann. Durch die Brock-Schnur bekommt man ein klareres Feedback. Hinweis: Sollte diese Übung nicht direkt gut gelingen, sollte man sie auslassen, da sie fürs Nervensystem sehr schwer sein kann.
Übung: Achterschleife – Kopf ausrichten
Zwei Markierungen werden im Abstand von drei bis vier Metern in einer Linie aufgestellt. Mittig zwischen diesen beiden Markierungen wird ein Ziel auf Augenhöhe angebracht. Man geht in einer Achterschleife um die Markierungen, lässt den Kopf immer auf das Objekt in der Mitte ausgerichtet und geht nur vorwärts. Wichtig dabei ist, dass der Kopf die gesamte Zeit neutral bleibt, nicht in den Nacken geht und das Kinn sich parallel zum Boden befindet. Ziel ist es, den Rhythmus beim Umlaufen der Markierungen gleichzuhalten und nicht zu verzögern.

Imaginäre Acht: Diese Übung kann helfen, das Gleichgewicht und die Verarbeitung von visuellen Informationen zu verbessern.Bild: Valeria Witters
Die Achterschleife dient der Stabilisierung des Kopfes und der Augen, während sich der Oberkörper unter dem fixierten Kopf dreht. Diese Übung verbessert das Timing mit dem Ausholen und Aufdrehen in der Schlagbewegung. In der Fachsprache spricht man hier vom zerviko-zervikalen Reflex, der die Augenbewegungen mit den Kopfbewegungen koordiniert. Er ermöglicht es, den Blick auf ein Objekt zu fixieren, auch wenn sich der Kopf bewegt. Dies passiert in einem Tennismatch ständig, weil der Kopf auf den Ball ausgerichtet ist und der Körper gleichzeitig zum Schlagen ausholt.
Übung: Augenklappe – Schlagkraft
Als Hilfsmittel dient eine Augenklappe, die man auf eines der Augen platziert. Man schaut sich Dinge im Raum an und wechselt für 30 bis 60 Sekunden ständig den Blick – von einem nahen auf ein fernes Objekt, von rechts nach links, von oben nach unten. Anschließend schlagen Sie Bälle und spüren, ob sie den Ball anders wahrnehmen. Die Übung verbessert die Stabilität der Schulter und die Fähigkeit, in Beugung zu stehen. Durch das Abdecken des Auges wird das Mittelhirn auf der offenen Seite trainiert. Im Mittelhirn entspringt der „Tractus tectospinalis“ – die Verbindung zwischen dem visuellen System und dem Nacken.
Für den Rechtshänder gilt: Ist das linke Auge abgedeckt (wie im Beispielbild), wird die Schlagkraft und Beugung bei der Rückhand trainiert. Man arbeitet in dieser Variante mit seinem rechten Auge für die linke Schulterstabilität und Schlagkraft.Ist das rechte Auge abgedeckt, wird die Vorhand trainiert. Für Linkshänder gilt es andersrum.

Fokussiert: Ein Effekt auf die Schlagqualität sollte nach dem Training mit der Augenklappe spürbar sein.Bild: Valeria Witters
Diese Übung dient der Verbesserung der Schlagkraft und hält den Körperschwerpunkt tief. Die besten Tennisprofis sind Meister darin, von unten stark nach oben zu arbeiten. Die Augenklappe zielt darauf ab, das Zusammenspiel zwischen Augen und Gehirn zu verbessern und die visuelle Wahrnehmung zu schärfen.
Übung: Vorwärtsgang – Blick halten
Diese Übung ist ähnlich zur Übung mit dem Ausfallschritt und spricht das gleiche Sinnessystem an. Als Hilfsmittel dient wieder eine Seh-tafel, die man sich problemlos auf sein Smartphone laden kann. Natürlich geht dies auch mit einer analogen Sehtafel, die man vom Optiker kennt (Fachbegriff: Snellen chart). Man fixiert wieder einen Buchstaben mit einem neutralen Blick auf der Sehtafel und läuft mit dem Smartphone vorwärts über den Platz und hält dabei den Blick auf den ausgewählten Buchstaben.

Blickstabilisation: Wie der Ausfallschritt lässt sich diese Übung problemlos alleine durchführen.Bild: Valeria Witters
Schwierigkeitsgrad: Versuchen Sie es auch mal im Rückwärtslaufen. Weitere Variante: Neigen Sie ihren Blick nach rechts oder links und halten sie im Gehen den Blick auf den Buchstaben. Schauen Sie direkt im Anschluss, inwiefern sich der Schlag anschließend verbessert und wählen dann die Seitenneigung mit den besseren Effekten. Diese Übung verbessert das Vorwärtslaufen und Rückwärtslaufen in den Raum. Das Ziel ist die Blickstabilisation (scharfes Sehen des Balls) und die Haltungsregulierung bei Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen.
Experte Lars Lienhard
Lars Lienhard ist Namensgeber des Neuroathletik-Trainings. Als Gründer, Geschäftsführer und Sportlicher Leiter des Neuro Athletic Training Institutes steht er mit seinem Namen für die Qualität der Ausbildung. Ziel ist die Vermittlung von anwendungsorientiertem Wissen und Können im Bereich des neurozentrierten Trainings. Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien gehörte er zum Betreuerteam der deutschen Nationalmannschaft. 2016 begleitete er die deutschen Leichtathleten zu Olympia nach Rio de Janeiro. Lienhard trainierte im Tennis unter anderem mit Alexander Zverev, Kevin Krawietz und Dominic Thiem. Weitere Informationen: www.nat-institute.com

