Carlos Alcaraz

Voller Einsatz: Carlos Alcaraz gewann neun seiner bislang 18-ATP-Titel auf Sand, darunter die French Open 2024. Bild: Imago/Xavi Urgeles

Rekordjäger Carlos Alcaraz: Auf seine Art

Carlos Alcaraz kann bereits mit 22 Jahren eine Erfolgsvita vorweisen, auf welche die meisten Spieler neidisch sind. Doch den Spanier treibt ein noch größeres Ziel an: der Beste der Geschichte zu werden. Dies führt zu inneren Konflikten.

Um zu verstehen, wie ­Carlos Alcaraz tickt, sollte man sich  eine Szene aus der Dokumentation „Carlos Alcaraz: A Mi Manera (Auf meine Art)“ im Streamingdienst Netflix anschauen. Der Spanier ist im Halbfinale bei den French Open 2023 nach Muskelkrämpfen gegen Novak Djokovic ausgeschieden. Es ist ein erster Tiefpunkt in der noch so jungen Karriere von Alcaraz.

Um seine Wunden zu lecken und den Kopf freizubekommen, will er mit seinem Bruder Alvaro und seinen Schulfreunden einige Tage auf Ibiza verbringen – sehr zum Missfallen seines Teams. „Ich erklärte ihm, dass es keine gute Idee ist, vier Tage Urlaub auf Ibiza zu machen, wenn die Woche drauf das Turnier in Queen’s und danach Wimbledon ansteht“, sagt sein langjähriger Manager Albert Molina.

Doch Alcaraz hat seinen eigenen Willen. Er widersetzt sich seinem Team und reist nach Ibiza. „Auf Ibiza ging es ums Partymachen, um die Häuser ziehen. Ich bin dorthin, um die Sau rauzulassen. Es war irre. Ich habe es ausgekostet. Dann habe ich in Queen’s und in Wimbledon gewonnen. Ich sage nicht, dass ich wegen des Feierns gewonnen habe, aber die Tage haben mir gutgetan“, sagt Alcaraz. Das große Ziel des 22-Jährigen aus El Palmar, einem Ortsteil der südspanischen Stadt Murcia: „Ich will der Beste aller Zeiten werden. Das ist mein Traum.“ Es gibt dabei noch einen kleinen Zusatz: „Aber es muss auch Spaß machen!“ 

Carlos Alcaraz wie ein offenes Buch

Es ist dieser innere Konflikt von Alcaraz, der in dieser Dokumentation gut verdeutlicht wird: der Spagat zwischen dem Wunsch nach großem Erfolg und dem Spaß auf dem Weg dorthin. Seine Devise: „Für mich ist einer der Schlüssel, um zu gewinnen, es zu genießen. Spaß zu haben, sowohl auf dem Platz als auch abseits des Platzes, auch mal zu vergessen, dass man Tennisspieler ist, das ist für mich nicht optional, sondern notwendig“, sagt Alcaraz. 

Carlos Alcaraz

Spielfreude: Der Schlag durch die Beine ist für Carlos Alcaraz alles andere als ein Notschlag.Bild: Imago/Buzzi

Selten hat man einen Topspieler im frühen Stadium seiner Karriere so offen gesehen, wie er über Ängste, Sorgen und Rückschläge spricht. Seinen Rivalen bloß nicht in die Karten schauen lassen, wie es einem im Inneren geht: Das ist nicht der Stil von Alcaraz. Er ist wie ein offenes Buch. Es ist wahrscheinlich diese Authentizität, die Alcaraz zum derzeit populärsten Spieler auf der ATP-Tour macht. „Manchmal habe ich keine große Lust zu spielen oder zu reisen. Manchmal will ich einfach zuhause sein. Ich will der 20-Jährige sein, der ich bin“, sagt er im Frühjahr 2024.  

Heiligtum Familie

Es sind die kleinen Dinge, die den viermaligen Grand Slam-Sieger glücklich machen. Die Familie ist ihm heilig. „Ich kann alleine leben, aber ich habe gerne meine Familie, meine Eltern um mich“, sagt er. In der Netflix-Dokumentation zeigt sich, wie wichtig es Alcaraz war, seinen 21. Geburtstag mit seiner Familie und seinen Jugendfreunden zu feiern – die Niederlage im Viertelfinale in Madrid im Vorjahr machte es möglich.

Es sind Szenen, in denen man sieht, was die große Popularität des Spaniers ausmacht: sein Charisma, sein ansteckendes Lachen. Und auch in diesem Jahr konnte er seinen 22. Geburtstag am 5. Mai mit seiner Familie verbringen, da er das Turnier in Madrid verletzungsbedingt absagen musste. 

„Seit er zum ersten Mal einen ­Schläger in die Hand nahm mit drei, vier Jahren, sah man ihn immer lächeln, wenn er zum Training oder zu einem Match ging. Das war schon immer so. Er will einfach nur Tennis spielen, solange er wirklich Freude daran hat. Alle Trainer haben immer das gleiche gesagt. Wenn Carlos trainiert hat, wenn er gespielt hat, gab er immer 100 Prozent“, sagt sein Vater, Carlos Alcaraz senior. Im Real Sociedad Country Club de Campo de Murcia reifte der Sohn zu einem der weltbesten Spieler. Die große Frage ist: Hat er auch das Zeug dazu, der beste Spieler der Geschichte zu werden?

Kann Carlos Alcaraz das Leiden genießen? 

Er hat sicherlich nicht die Eleganz und das göttliche Talent von Roger Federer, das Perfektionsstreben von Novak Djokovic, seine gesamte Lebensweise dem Erfolg unterzuordnen, oder die Leidensfähigkeit von Rafael Nadal. „Er muss lernen, trotz Schmerzen, ohne bei 100 Prozent zu sein, anzutreten. Die Weltbesten waren erfolgreich, weil sie gut mit Schmerzen umgehen konnten“, sagt Alcaraz‘ Manager Albert Molina.

„Man muss das Schöne am Leiden erkennen“, stellte Alcaraz nach seinem Habfinalsieg gegen Jannik Sinner bei den French Open 2024 fest. Doch kann Alcaraz eins werden mit dem Schmerz wie sein großes Vorbild Nadal? Sein Team ist sich dabei nicht so sicher.

„Rafa ist ein Vorbild, was harte Arbeit und Selbstüberwindung betrifft. Carlos muss sich entscheiden, wer er sein will. Sein Verständnis von Arbeit und Opferbereitschaft unterscheidet sich von unserem so sehr, dass ich nicht sicher bin, ob er so der Beste aller Zeiten wird. Um der Beste aller Zeiten zu sein, musst du letztendlich ein Sklave sein. Wenn du das nicht sein willst, muss dir klar sein, dass du vielleicht nicht die beste Version deiner Selbst werden wirst“, sagt sein Trainer Juan Carlos Ferrero, der Alcaraz, seit dieser 15 Jahre alt ist, betreut.

Alcaraz erinnert an Boris Becker

„Djokovic hat stets klar vor Augen, was er tun muss. Und Carlos ist nicht bereit, auf Dinge zu verzichten, auf die Djokovic verzichtet, um sein Ziel zu erreichen“, meint sein Physiotherapeut Juanjo Moreno. Sein Manager Molina spricht seine Sorge direkt an seinen Schützling aus: „Du lässt dich davon ablenken, der beste Spieler aller Zeiten zu werden.“ 

Carlos Alcaraz

König Carlos: Im Alter von 21 Jahren gewann Alcaraz bereits zum zweiten Mal Wimbledon.Bild: Imago/Mark Greenwood

Alcaraz erinnert mit seiner bisherigen Vita an Boris Becker. Wie der Deutsche hat er im jungen Alter Rekorde gebrochen und steht wie Becker mit 22 Jahren bei vier Grand Slam-Titeln. Genau wie Becker genießt Alcaraz das Leben in vollen Zügen. Genau wie Becker damals ist er für seine Gegner, wenn er im Flow ist, nahezu unspielbar. Alcaraz ist wie Becker ein Grenzgänger, der es liebt, wenn Matches spannend werden. Das führt auch häufig dazu, dass er klare Führungen verspielt oder unerklärliche Niederlagen kassiert – so wie die deutliche Pleite in der zweiten Runde der US Open 2024 gegen Botic van de Zandschulp. 

Tränen nach verpasstem Olympia-Gold

Die Niederlage gegen Djokovic im Finale der Olympischen Spiele in Paris im Vorjahr hat Spuren beim Spanier hinterlassen. Seitdem ist ihm etwas seine Spielfreude abhandengekommen. Nach der verpassten Goldmedaille sah man den stets lächelnden Alcaraz so traurig wie noch nie. Das Interview mit seinem Landsmann Alex Corretja musste er mit Tränen in den Augen abbrechen.

„Ich habe geweint, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, dass ich meine Landsleute im Stich gelassen habe. Die olympische Goldmedaille für Spanien zu gewinnen, war etwas, das ich wollte, seit ich mit Tennis angefangen habe. Ganz Spanien wartete darauf, dass ich Olympiasieger werde. Ich habe mich viel mehr unter Druck gesetzt, als wenn ich für mich selbst spiele“, erklärte Alcaraz seinen Tränenausbruch.

Carlos Alcaraz: „Manchmal spiele ich Turniere, weil ich muss”

Beim ersten Turnier nach Olympia, in Cincinnati, erlebte man ihn so wütend wie noch nie, als er seinen Schläger zertrümmerte. „Ich hatte nicht die geistige Kraft, das auszuhalten. Ich wusste nicht, was ich brauchte, vielleicht eine Pause. Möglicherweise verlor ich meine Zuversicht. Ich dachte, bevor ich mich so fühle, spiele ich lieber gar kein Tennis“, sagte er. 

Carlos Alcaraz

Elegant: Am Rande der Mutua Madrid Open feierte Carlos Alcaraz die Premiere seiner Dokumentation „Carlos Alcaraz: A Mi Manera (Auf meine Art)“.Bild: Imago

Was will Alcaraz also wirklich? Will er tatsächlich alles opfern, um der beste Spieler der Geschichte zu werden? „Ich habe Angst davor, Tennis nur noch als Pflicht zu sehen. Ich frage mich auch oft, ob ich Dingen große Aufmerksamkeit schenke, die eigentlich gar nicht wichtig sind. Letztendlich spiele ich Tennis, weil es mir wirklich Spaß macht. Aber manchmal habe ich dieses Gefühl nicht. Manchmal spiele ich Turniere, weil ich muss. Ich denke ans Ranking, ich denke an den Bonus, ich denke an andere Dinge. Dann verliere ich aus dem Blick, was mir wirklich wichtig ist“, sinniert er.

Es ist dieser ständige Kampf zwischen dem Gegenwarts-Ich, das in diesem Augenblick Freude haben möchte, und dem Zukunfts-Ich, das in mehreren Jahren auf eine erfolgreiche und zufriedenstellende Karriere zurück­blicken will.

Carlos Alcaraz: lieber glücklich als wahnsinnig erfolgreich

Albert Molina, nicht nur Manager, sondern auch väterlicher Freund, ist sich des Zwiespalts, den sein Schützling in sich trägt, bewusst. „Man muss das Leben genießen und wissen, was man will. Mit 21 ist das einem alles noch nicht so klar. Letztendlich ist es wichtig, dass man ein erfüllter Mensch ist. Dass man sagen kann: Ja, ich habe den Weg genossen. Ich habe Carlos so gerne, dass mir eine berufliche Niederlage lieber wäre, als dass er morgen sagt: ‚Verdammt, Albert. Ich habe so viel erreicht, aber ich bin nicht glücklich gewesen.‘ Das würde mich total fertig machen“, sagt er. 

Um tatsächlich der Beste der Geschichte zu werden, hat Alcaraz noch eine lange Strecke vor sich. Um Djokovic einzuholen, der derzeit bei 24 Grand Slam-Titeln steht, müsste der Spanier die nächsten zehn Jahre jede Saison zwei Grand Slam-Turniere gewinnen. „Ich setze alles daran, der Beste von allen zu werden – auf meine Art“, sagt Alcaraz. Und diese Art sieht so aus: „Durch meine bisherigen Erfahrungen weiß ich, dass es mir wichtiger ist, glücklich zu sein als wahnsinnig erfolgreich. Denn Glück ist schon ein Erfolg. Und es ist nicht leicht, es zu finden.“

Carlos Alcaraz Netflix