Andy Murray steht im Viertelfinale von Wimbledon

Zum Rücktritt von Andy Murray: Alle besiegt außer sich selbst

Andy Murray schaffte es trotz der größtmöglichen Konkurrenz seiner Generation, das Verlierer-Image abzulegen und zu einem der erfolgreichsten und gefürchtesten Konterspieler der Tennishistorie aufzusteigen. Er besiegte Federer, Djokovic, Nadal mehrfach. Er erlöste eine ganze Insel vom Wimbledon-Fluch. Den härtesten Kampf – den gegen seinen Körper – hat er nun verloren. Dabei hatte er nie richtig eine Chance.

Andy Murray streckt sich nach dem Mikrofon. Er geht erst in die Hocke. Dann richtet er sich auf und blickt gen Londoner Himmel. Sekunden vergehen. Für den 25-Jährigen fühlt es sich quälend lange an. Den meisten seiner zahlreichen Fans geht es wohlmöglich ähnlich. Ein letztes Mal atmet der Schotte tief ein und aus. Anschließend richtet Murray das Mikro vor seine zugespitzten Lippen und setzt an.

„Ok, ich werde es versuchen“, sagt er mit brüchiger Stimme und hängt mit letzter Kraft an. „Aber es wird nicht einfach.“ Beim letzten Wort verlassen ihn Kraft und Stimme. Wieder beugt er sich nach vorne. Mit der Hand greift er sich ins Gesicht. Die Tränen bahnen sich ihren Weg.

Sportlertränen. Andy Murray verdrückt an diesem 8. Juli 2012 reichlich viele. Nicht nur in diesem Moment auf dem Centre Court von Wimbledon. Dort, wo ihm 15.000 auf den Rängen, tausende auf den nach ihm umgetauften Hügel vor Court 1 und Millionen und Abermillionen an den Bildschirmen trotz der Final-Niederlage gegen Roger Federer frenetisch zujubeln.

Nach der offiziellen Zeremonie, in den Stunden und Tagen danach ist Murray untröstlich – ein mentales Wrack. Es ist nur zu erahnen, wie viel Aufbauarbeit seine Familie um Freundin Kim und Mutter Judy sowie sein Funktionsteam um Ivan Lendl in dieser Zeit geleistet haben. Und wie groß ihre Leistung und die mentale Arbeit von Andy Murray selbst gewesen sein muss, der sich nach dem vierten verlorenen Grand Slam-Finale im vierten Versuch aus dem tiefsten aller Löcher befreite – und nur einen Monat später das olympische Tennisturnier am gleichen Ort und gegen den gleichen Gegner für sich entschied und wenig später seinen Grand Slam-Fluch bei den US Open in das Reich der Märchen verbannte. Der riesengroße Erfolg, sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg, mit Mitte 20 hatte begonnen. Die großen Blätter fragten fortan nicht mehr nur, ob aus den „großen Drei“, um Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic bald die „großen Vier“ werden. Murray gehörte fortan offiziell dazu.

In diese Riege gehört die ehemalige Nummer eins (41 Wochen) als dreifacher Majorsieger und Davis Cup-Gewinner auch im Hier und Jetzt an diesem Freitag im Januar 2019 – achteinhalb Jahre später. Auch wenn er offiziell nur noch die Nummer 230 der Weltrangliste ist. Die Szene, die sich im Medienzentrum der Australian Open, genauer im „Main Interview Room“ abspielt, erinnert auf eine leidliche Art und Weise an jene auf dem Centre Court in Wimbledon 2012.

Die emotionale PK von Murray bei den Australian Open

Der 31-Jährige betritt die Szenerie vor der großen Sponsorenleinwand. Die Cap engsitzend und weit in das Gesicht gezogen. Murrays schwerklingende Atemzüge werden durch die Mikrofone noch schwermütiger in den Raum und auf die Bildschirme transportiert. Murray wischt sich über den Mund, während mehrere Journalisten ihre Aufnahmegeräte auf dem Pult in nächster Nähe zum Superstar platzieren – nichts ahnend. Nun geht der Blick des bekanntesten schottischen Sportlers gen Boden. Daraufhin wartet er mit leerem Blick auf die erste Frage, von der er und alle Journalisten genau wissen, wie sie lauten wird.  „Wie geht es Ihnen und Ihrer Hüfte?“, überrascht niemanden. Murrays Reaktion aber löst ein mediales Erdbeben in der Tenniswelt aus.

„Ja, es ist nicht großartig“, antwortet er und bricht ab. Er atmet tief aus und ringt sekundenlang um Worte. Wieder muss es ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkommen – wie damals in Wimbledon. Als aber die Tränen kullern und er merkt, dass er die richtigen Worte noch nicht findet, verlässt er, anders als damals, die Szenerie – in diesem Fall den Raum, in dem die Presse lauscht.

Als er wenige Minuten später zurückkommt und sich entschuldigt, ahnen die meisten, was jetzt kommen könnte. Er gibt zu, dass er weiterhin große Schmerzen hat. Dass es ihm nicht gut geht. „Die Schmerzen sind wirklich zu stark. So will ich nicht weiterspielen“, sagt Murray, der sich vor einem Jahr an der Hüfte hatte operieren lassen. Er habe deshalb bereits in der Vorbereitung mit seinem Team gesprochen und beschlossen: Spätestens beim Grand Slam-Turnier in seiner Londoner Heimat, in Wimbledon, soll Schluss sein: „Aber ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe“ (lesen Sie HIER mehr).

Es entwickelt sich eine hochemotionale Pressekonferenz, weil nicht nur Andy Murray selbst, sondern auch alle anwesenden Journalisten genau wissen: Wenn der wohl verbissenste Kämpfer dieser Spielergeneration diese Verletzung und vor allem die Schmerzen nicht besiegen konnte und kann, dann kann es wohl niemand. Dann war es das. Dieses Mal wird es kein Happy End geben. Immerhin:  Zu seinem Erstrundenmatch gegen Roberto Bautista-Agut möchte der fünffache Finalist von Melbourne antreten; beantwortete aber auch die Nachfrage, ob die diesjährigen Australian Open sein letztes Turnier sein könnten mit einem „ja, das ist im Bereich des Möglichen“.

Murray: Erster Rücktritt aus den Top vier

Die Quintessenz aus dem Erlebten: Ausgerechnet der Jüngste dieses Ausnahme-Quartetts wird zuerst seine Karriere beenden. Wird beenden müssen, muss es leider heißen. Die Saga um seine Hüftverletzung war komplizierter als die Ellenbogenverletzung von Djokovic, längerfristiger als die wiederkehrenden und mit Schmerzmitteln zu kontrollierenden Verletzungen von Nadal und wesentlich dynamischer und unkontrollierbarer als die Knieverletzung von Federer.

Beim Wimbledon-Turnier 2017 ging die verletzungsbedingte Odyssee des „Sir“ so richtig los. Damals hatte er im Viertelfinale gegen Sam Querrey unter starken Schmerzen sein für lange Zeit letztes Profimatch bestritten. Nach einer zunächst konservativen Behandlung der langwierigen Hüftverletzung und der Trennung von Ivan Lendl, bei der das Thema „Operation – Ja oder Nein“ eine große Rolle gespielt haben soll, missglückten erste Comebackversuche bei den US Open 2017 und später vor dem Start der  Australian Open 2018 – bei Exhibitions in Abu Dhabi. Zwischenzeitlich wurde schon damals über ein Karriereende spekuliert. Murray betonte, einfach wieder schmerzfrei Tennis spielen zu wollen und unterzog sich schließlich einer Operation.

Murray und das Geduldspiel mit seiner Hüfte

Direkt nach der Operation am 8. Januar 2018 hatte Murray in einer Telefonkonferenz angekündigt, Ende Februar zurück auf dem Platz stehen zu wollen, zeitgleich aber betont, sich nicht all zu sehr unter Druck setzen zu wollen. Den Fehler habe er 2017 begangen. Ähnliche Vorgänge konnte die ehemalige Nummer eins bei Kollegen wie Novak Djokovic oder Milos Raonic beobachten – mahnende Beispiele.

Alsbald musste Murray feststellen, dass die Operation seiner Hüfte zwar Besserung verschaffte. Die fehlende Dynamik des Gelenks, die Dynamik des Sports gestalteten ein Comeback auf Augenhöhe und vor allem gänzlich ohne Schmerzen aber als schwierig. So dauerte es 343 Tage, bis Murray beim Vorbereitungsturnier in Queen’s zurückkehrte und erstmals wieder seit Wimbledon ein Profimatch bestritt – mit einer ansehnlichen Niederlage gegen Nick Kyrgios. Wenige Tage später gab Murray bekannt, dass sein Körper noch nicht bereit sei für den Modus Best of 5 und damit auch nicht für Wimbledon.

Murray wollte einfach nur schmerzfrei sein

Immer wieder betonte Murray im vergangenen Sommer, dass er auch damit leben könne, wenn es nicht mehr für alte Erfolge reichen sollte. „Aber die Liebe zum Tennis ist größer. Wenn ich nur noch die Nummer 30 der Welt sein kann, aber das schmerzfrei, dann ist das für mich okay“, sagte der Geschundene. Ein halbes Jahr später ist die Gewissheit da. Die Schmerzen sind noch da. Sie sind zu stark. Und sie gehen auch nicht mehr weg. „Ich habe meinem Team gesagt, dass ich das nicht mehr tun kann. Ich brauche Gewissheit und einen Abschluss. Ich habe gespielt, ohne zu wissen, wann der Schmerz aufhört. Ich fühlte, dass diese Entscheidung jetzt getroffen werden muss“, sagte Murray am Freitag in seiner emotionalen Pressekonferenz.

Eine Pressekonferenz, die in der Nachbetrachtung dieser herausragenden Karriere in Erinnerung bleiben wird. Ebenso wie die sportlichen Erfolge: 14 Masters1000-Siege, drei Grand Slam-Titel, ein Davis Cup-Erfolg in einer Zeit, in der drei der besten Spieler aller Zeiten auf einem übermenschlich agierenden Niveau Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr Erfolge ablieferten. Umso erstaunlicher, dass es Murray ausgerechnet in dieser Zeit gelang, als erster männlicher Spieler der Geschichte olympisches Gold zu verteidigen.

2016 war das, während seiner zweiten Liaison mit Ivan Lendl. Es ist nicht sehr waghalsig zu behaupten, dass Murray ohne den Einfluss von Lendl vielleicht niemals die Transformation zum Grand Slam-Champion geschafft hätte. Denn außer Murray gab es genau einen weiteren Spieler, der seine ersten vier großen Finals verlor: Ivan Lendl.  Der zaudernde Lendl war der passende Deckel für den Topf (Murray). Gemeinsam entwickelte das Duo eine Rezeptur für eine Top4-Mentalität. Die absolut nötig war in diesem Zeitalter, um Majors zu gewinnen.

Lendl rettete Murrays Karriere

Sie war auch notwendig, um den Wimbledonfluch Großbritanniens seit 1938 zu beenden. Seit Fred Perry war Murray der erste britische Sieger. Ein Jahr nach den Tränen gewann er nach 75 Jahren das wichtigste Turnier der Welt. Klar, dass Murray längst zum Ritter geschlagen wurde in seiner Heimat. Bezeichnend: Der zweite Wimbledon-Titel 2016 folgte in der zweiten Amtszeit Lendls. Unsterblich wurde er auf der Insel 2015, als er als Führungsspieler den Davis Cup gegen Belgien gewann – mit dem Ballwechsel des Jahres.

Geliebt wurde er auch zu Hochzeiten dennoch nicht immer und vor allem nicht außerhalb Großbritanniens. Unsere Kolumnisten, die Sandplatzgötter, schrieben 2016 in ihrer Kolumne über Murray: „Selbst unter uns Sandplatzgöttern gibt es nicht wenige, die lobenden Hauptsätze zum Weltranglistenzweiten grundsätzlich einschränkende Nebensätze folgen lassen. Murray ist (siehe oben) erfolgreich, weil andere verletzt oder nicht in Form sind. Er spielt gut, guckt dabei aber zu missmutig. Hat einiges gewonnen, allerdings viel weniger als Roger, Rafa & Nole. Insgesamt: Richtig beliebt ist irgendwie anders.“ (HIER gibt es die gesamte Kolumne)

Wahr ist aber auch: Kaum einer analysierte nach seinen Matches so treffend, sprach Missstände auf der Tour an, wo sich andere nichts zu sagen trauten und hatte einen so trockenen Humor.

Dem Tennis wird er jedoch massiv fehlen. Nicht nur wegen seiner Leistungsstärke. Murray ist einer der wenigen Stars mit einer glasklaren Haltung. „Murray sagt oft, was er denkt, auch wenn es nicht jedem gefällt. Und, eine noch größere Überraschung: Er handelt auch mal danach! Etwa durch die Verpflichtung einer TrainerIN“, um noch ein weiteres Mal die Sandplatzgötter zu zitieren.

Murrays klare Haltung beim Thema Gleichberechtigung

Murray war der erste Spieler, der in Form von Amelie Mauresmo eine Frau als Trainerin verpflichtete und öffentlich trotz aller Kritik und Sexismus gegenüber der Französin Haltung bewahrte: „Mir war klar, dass gelästert werden würde, wenn ich Amelie verpflichte. Ich wusste, es würde bei Einigen ein verdächtiges Gefühl, Misstrauen und Negativität hervorrufen. Ich hätte aber nicht für möglich gehalten, dass sich meine Trainerin gegen so viel Kritik und Vorurteile stemmen muss. Das Erschütternde ist, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung Schuld an fast jeder Niederlage hatte. Etwas, was meinen anderen Trainern nie widerfahren ist. Das ist einfach nicht richtig.“

Murray gab auch öffentlich an, dass er sich schämte, dafür, was Mauresmo alles ertragen musste. Murray jedenfalls war und ist vor und nachher Meinungsführer in Sachen Gleichberechtigung und spricht sich aktiv gegen Sexismus aus – auch außerhalb des Tennis. Zuletzt geschehen nach der Weltfußballerwahl (lesen Sie HIER mehr). Einen großen Anteil an seiner Haltung trägt natürlich seine Mutter Judy Murray, mit der er auch den Tag seines Rücktritts ausklingen ließ.

 

Noch wird Andy Murray selbst nicht exakt wissen, ob der Erstrundenauftritt in Down Under tatsächlich bereits der letzte Auftritt seiner Karriere werden wird. Dass sein Körper ihn für einen selbstbestimmten Abschied bis nach Wimbledon trägt, es wäre diesem Kämpfer mit Haltung zu wünschen. Nur eines scheint jetzt bereits klar: Egal, wo es zu Ende geht. Für ihn und seine Fans wird es sicher wieder hoch emotional.zapatillas air jordan 1 outlet | nike jordan 1 dior cheap