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Will wieder zurück nach ganz oben: Naomi Osaka kommt beim Turnier in Brisbane zurück auf die WTA-Tour.

Naomi Osaka: Die Wiedergeburt eines Champions

Nach mehr als 15 Monaten Pause wird Naomi Osaka beim Turnier in Brisbane auf die WTA-Tour zurückkehren – als Mutter und als Ex-Starspielern, die mit neuem Selbstbewusstsein unbedingt wieder auf ihr altes Level zurückkommen will.

Naomi Osaka wurde im Oktober 26 Jahre alt. Eigentlich ist das noch kein Alter, um auf sein Leben zurückzublicken. Aber Osaka, diese zurückhaltende, leise, nachdenkliche und manchmal auch fragil wirkende Frau, die auf dem Platz eine unvergleichliche Power in ihren Schlägen entwickeln und mit unbarmherziger Präzision ihre Gegnerinnen zerlegen kann, schaut schon jetzt auf eine Vita zurück, die ihresgleichen sucht.

Als was wurde sie nicht schon alles bezeichnet? Als das neue Riesending im Damentennis, als hochbezahlte Werbeikone, als geschickte Geschäftsfrau, als Kämpferin gegen Rassismus, als Vorreiterin für das Thema „mentale Gesundheit“, als Fashion Victim, aber auch als Heulsuse, verwöhnte Göre oder kindische Egomanin. Osaka, über die schon 2021 eine dreiteilige Netflix-Doku erschien, hat all die Höhen und Tiefen einer globalen und omnipräsenten Sportlerinnenkarriere kennengelernt wie kaum eine andere Athletin.

Naomi Osaka

Basketballfans unter sich: Naomi Osaka mit Nick Kyrgios Anfang Dezemeber bei einem NBA-Spiel der Los Angeles Lakers.

Naomi Osaka mit Infektion während der Schwangerschaft

Im Sommer 2023 kam ein neuer Aspekt in ihrem Leben hinzu. Osaka ist jetzt Mutter. Ihre Tochter, die sie nun gemeinsam mit ihrem Partner, dem Rapper Cordae, großzieht, heißt Shai. Es ist ein hebräischer Name und bedeutet „Geschenk“. Der US-Ausgabe der Frauenzeitschrift InStyle vertraute sie nun Details aus ihrer Zeit als werdende Mutter an. Während der Schwangerschaft, so Osaka, wurde sie positiv auf Streptokokken der Gruppe B getestet. Das ist eine bakterielle Infektion, die etwa 20 Millionen schwangere Frauen pro Jahr in sich tragen und auf ihre Babys übertragen können. Sie kann beim Neugeborenen zu einer Sepsis, Meningitis oder zu einer Totgeburt führen.

 

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In den Wochen vor der Entbindung dachte Osaka auch an Tori Bowie, eine US-amerikanische Leichtathletik-Olympiasiegerin, die zwei Monate vor Osakas Einsetzen der Wehen tot aufgefunden wurde. Die Autopsie ergab, dass Bowie im achten Monat schwanger war und offenbar an Atemnot und Eklampsie litt, einer schweren Erkrankung, die mit hohem Blutdruck während der Schwangerschaft zusammenhängt. Als das alles auf sie einprasselte, „fing ich an, ein bisschen auszuflippen“, gibt Osaka zu.

Sie nahm Kontakt zu anderen Müttern auf, darunter auch Allyson Felix, elffache Olympiamedaillengewinnerin und Teamkollegin von Tori Bowie. Felix hat über ihre eigenen traumatischen Erfahrungen während der Frühgeburt ihres Kindes gesprochen und darüber, dass schwarze Frauen die höchste Müttersterblichkeitsrate in den USA haben. Auch bei schwarzen Babys ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie sterben oder zu früh geboren werden. Serena Williams erlebte eine Geburt, die fast zum Tode geführt hätte. All das führte dazu, dass Osaka während ihrer Schwangerschaft sogar ihr Testament verfasste.

Naomi Osaka erlebte den „schlimmsten Schmerz“ ihres Lebens

„Es gab so viele Dinge, die ich nicht wusste“, sagt Osaka heute. An dem Tag, als ihre Fruchtblase platzte, eilte sie ins Krankenhaus. Die Ärzte waren besorgt wegen ihrer Infektion, sie bekam Antibiotika. Nach zwölf Stunden war ihr Muttermund nur einen Zentimeter geöffnet. Der Ärzte verabreichten ihr ein Medikament, das die Kontraktion der Gebärmutter auslösen sollte, aber Osaka musste sich davon übergeben.

Sie versuchte ruhig zu atmen und sich auf die Geburt ihrer Tochter zu konzentrieren, indem sie sich sagte: „Was auch immer passiert, es passiert. Es ist nichts, was ich kontrollieren kann.“ Sie hatte im Vorfeld so viele Erziehungs- und Geburtsbücher gelesen und einen Geburtsvorbereitungskurs besucht. Doch all das half ihr jetzt nicht.

Schließlich musste sie ihr Baby herauspressen. „Ich dachte in diesem Moment: Das ist der schlimmste Schmerz meines Lebens und wenn ich den überstehe, wird sich alles andere ganz einfach anfühlen“, sagt Osaka. Später erfuhr sie, dass die Nabelschnur um den Hals ihrer Tochter gewickelt war.

Als US-Reporterin Erika Hayasaki im kalifornischen San Fernando Valley sich mit Osaka zum Interview für die InStyle traf, waren die Geburtsschmerzen längst vergessen. Osaka hat dort, etwa 30 Kilometer nordwestlich von Los Angeles, ein Anwesen gemietet, um sich auf ihr Comeback vorzubereiten. Hayasaki beschreibt Osaka in ihrem Text als extrem fokussiert und fit. Der instabile Körper, die zerbrechlichen Gelenke, der weiche Core – von diesen typischen Schwangerschaftsnachwirkungen ist nichts mehr zu sehen. Osaka muss unzählige Stunden in den Wiederaufbau ihres Athletinnenkörpers investiert haben, vermutet Hayasaki.

Schuften für das Comeback: Naomi Osaka mit dem deutschen Physio Florian Zitzelsberger.

Florian Zitzelsberger: „Naomi Osaka hat den maximalen Willen“

Dafür zuständig ist der deutsche Physiotherapeut Florian Zitzelsberger, der im aktuellen tennis MAGAZIN sagt: „Naomi hat den maximallen Willen. Sie hat gelernt, bis an ihre Grenzen gehen zu wollen.“ Zitzelsberger verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz und kombiniert Athletiktraining mit Physiotherapie und Osteopathie. Seine Einschätzung zum Comeback von Osaka: „Normalerweise braucht man nach einer Schwangerschaft mindestens ein Jahr, um das Gewebe des Körpers komplett zu stabilisieren. Naomi aber ist eine Powerspielerin, mit einer unglaublichen Schlagkraft und einem unglaublich schnellen Arm. Das verändert die Situation ein bisschen, weil sie die Punkte viel schneller beenden kann. Sie dominiert das Spiel, sie spielt offensiv und aggressiv. Sie kann schneller, als man denkt, wieder an ihre Bestform herankommen.“

Beim WTA-Turnier in Brisbane (ab 1. Januar 2024) wird Osaka ihr erstes Profimatch seit ihrem Auftritt in Tokio im September 2022 bestreiten. Das Turnier wird erstklassig besetzt sein: Aryna Sabalenka, Elena Rybakina, Madison Keys, Daria Kasatkina, Veronika Kudermetova und viele andere bekannten WTA-Namen werden am Start sein. Osaka, die aktuell kein Ranking besitzt und per Wildcard ins Hauptfeld kommt, könnte gleich in der ersten Runde auf eine hochkarätige Gegnerin treffen. Oder auf eine andere Spielerin, die gerade Mutter geworden ist: Angelique Kerber, die ebenfalls eine Wildcard der Veranstalter erhielt.

Ihre Trainingstage beginnen morgens um fünf Uhr, wenn sie Töchterchen Shai das erste Mal füttert. Vormittags startet Osaka mit ihrem Workout. 30 Minuten Ausdauertraining (Laufen oder Radfahren), dann viel Stretching und danach zwei bis drei Stunden lang Tennistraining. Zum Abschluss geht es ins Gym: Krafttraining, Stabilitätsübungen, Massage. Bis zu sechs Stunden täglich wendet sie für das Programm auf. Der Sonntag ist trainingsfrei und komplett für Shai reserviert.

„Dadurch, dass Shai nun in ihr Leben getreten ist, ist ihr klar geworden ist, dass sie jede Minute, die sie hat, auch wirklich nutzen muss“, sagt Osaka-Coach Wim Fissette. Den Belgier, mit dem Osaka die US Open 2020 und die Australian Open 2021 gewann, hatte sie kürzlich in ihr Team zurückgeholt, was einige Störgeräusche mit sich brachte. Bis zum Spätsommer arbeitete Fisette noch als Trainer der Chinesin Qinwen Zheng. Als die Anfrage von Osaka kam, folgte Fissette dem Ruf seines ehemaligen Schützlings und ließ eine verärgerte Zheng zurück.

Naomi Osaka

Erfolgreiches Duo: Mit Wim Fissette gewann Naomi Osaka zwei ihrer vier Grand Slam-Titel.

Den Starcoach, der mit zahlreichen Spielerinnen, darunter Kim Clijsters, Simona Halep und Angelique Kerber, erfolgreich zusammenarbeitete, treibt sicherlich auch die besseren Erfolgschancen an, die er mit Osaka hat. „Naomi ist die beste Spielerin, die ich je trainiert habe. Sie hat alles, was man braucht, um eine Topspielerin zu sein: eine herausragende Kombination aus körperlichen, taktischen und mentalen Aspekten. Ich sehe bei ihr keine Schwächen“, sagte Fissette im Interview mit tennis MAGAZIN 2021.

Aktuell sieht er Osaka auf einem guten Weg: „Es geht bei ihr nicht darum, zurückzukommen. Sie will wirklich sehen, wie gut sie sein kann. Ihr Fokus ist unvergleichlich. Aber natürlich müssen wir sehen, wo ihr Niveau liegt. Wir müssen es spüren. Und von dort aus müssen wir weiter aufbauen.“ Osakas Erwartungen an sich selbst sind höher als je zuvor: „Ich möchte nicht zurückkommen, wenn ich nicht auf einem bestimmten Niveau spielen kann.“

Naomi Osaka will noch acht Grand Slam-Titel

Sie definiert ihre Ziele klar: Die vierfache Grand Slam-Siegerin will acht weitere Grand Slam-Turniere gewinnen. Darunter sollen auch Roland Garros und Wimbledon sein. Auf Sand und Rasen blieben Osakas Leistungen in der Vergangenheit eher übersichtlich. Sie gilt schon seit ihren Juniorinnenzeiten als Inbegriff der modernen Hartplatzspielerin. Außerdem will sie 2024 in Paris die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewinnen.

Ist das nicht alles etwas zu hoch gegriffen? Warum setzt sie sich selbst so unter Druck, über den sie sich früher so oft beschwert hatte, als er noch eher von außen ­ – von den Medien, den Sponsoren, den Fans – erzeugt wurde? Als sie ihre ersten großen Triumphe einfuhr und zur bestbezahltesten Sportlerin des Planeten aufstieg (Gesamteinnahmen 2022: mehr als 50 Millionen US-Dollar), wurde der Erwartungsdruck immer größer.

Naomi Osaka

Nur als Zuschauerin dabei: Naomi Osaka bei den US Open 2023.

„Seitdem war mein Leben immer nur ,Los, Los, Los!‘. Ich hatte keine Gelegenheit, es langsamer angehen zu lassen“, sagte sie einmal. Aus einer schüchternen, aber selbstbewussten Frau – eine Kombination, die im Damentennis häufiger vorkommt, als man denkt – wurde eine Spielerin, die oft verkrampfte und früh verlor. Es kamen die typischen Fragen auf: Ist sie wirklich so gut, wie viele glauben? Waren die ersten Siege etwa doch nur Zufall? Hat sie wirklich den Biss, dauerhaft ganz oben zu stehen? Die Antwort von Osaka: „Ich habe die Antworten auf diese Fragen noch nicht gefunden.“

Es kam nun vor, dass Osaka auf Pressekonferenzen einsilbig antwortete oder diese vorzeitig abbrach, weil sie anfangen musste zu weinen. Bei den US Open 2020 – mitten in der Coronapandemie – aber zeigte sie wieder ihr komplettes Potenzial und holte den Titel. Legendär dabei waren ihre Auftritte auch deshalb, weil sie zu jedem Match eine Maske trug, auf der jeweils ein anderer Name stand. Sie wollte damit auf Opfer von Rassenungleichheit und Polizeigewalt in den USA aufmerksam machen, was ihr auch gelang. Die Aktion „7 Masken, 7 Namen“ ging viral.

Naomi Osaka

Sieben Masken, sieben Namen: Mit dieser Aktion bei den US Open 2020 machte Naomi Osaka auf die Opfer von Polizeigewalt und Rassenungleichheit in den USA aufmerksam.

Als die den Pokal in den Händen hielt, stellte ihr ein Moderator die selten dämliche Frage: „Sieben Matches, sieben Masken, sieben Namen – welche Botschaft wollen Sie senden?“ Osaka gab eine Antwort, die nicht hätte besser sein können und die ihre ikonenhafte Verehrung bestimmter Fangruppen ein weiteres Mal erklärte: „Die Frage ist doch: Welche Botschaft ist bei Ihnen angekommen?“

Es ist diese scharfsinnige Schlagfertigkeit, die man Osaka manchmal nicht zutraut. Weil sie verschlossen und in sich gekehrt wirkt. Als dann ausgerechnet sie sich Sorgen um ihre mentale Gesundheit machte und bei den French Open 2021 aus dem laufenden Turnier ausstieg, waren die Urteile schnell gefällt: Warum stellt die sich so an und was soll das alles überhaupt? Was dabei vielfach übersehen wurde: Eine Verletzung am Kopf ist genauso ernst zu nehmen wie eine Verletzung im Kopf.

Die mentale Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung für Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Osaka setzte das Thema „geistiges Wohlbefinden“ auf ihre Weise im Profitennis auf die Tagesordnung. Und von dort wurde es im gesamten Weltsport wahrgenommen. Sie zeigte sich öffentlich zweifelnd und verletzlich. „Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich herauszufinden versuche, was ich machen will, und ich weiß ehrlich nicht, wann ich meine nächste Partie spielen werde“, sagte sie 2021 nach ihrem Drittrunden-Aus bei den US Open, während Tränen über ihre Wangen kullerten. Würde sie mit 23 Jahren vom Profitennis zurücktreten? Unwahrscheinlich war so ein Szenario damals nicht.

Naomi Osaka

Nach wie vor gut im Geschäft: Naomi Osaka im September 2023 bei einem Sponsorentermin.

Naomi Osaka: „Ich werde nicht ewig Tennis spielen können“

Wer Osaka nun im November 2023 trifft, bekommt den Eindruck, dass ihre mentale Verfassung nicht besser sein könnte. So jedenfalls beschreibt es die Reporterin Hayasaki. „Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich in den letzten Jahren meines Lebens immer irgendwie niedergeschlagen. Aber heute habe ich das Gefühl, dass es nicht mehr so ist“, sagt Osaka der InStyle. Sie erzählt von einer Begegnung mit Star-Schwimmer Michael Phelps, der mit Depressionen zu kämpfen hatte, als er auf dem Gipfel seines sportlichen Schaffens stand. Ihm kamen sogar Selbstmordgedanken. Auf einem Symposium für mentale Gesundheit war es Phelps, der Osaka dafür dankte, dass sie dieses wichtige Thema so stark in die Öffentlichkeit gebracht hätte: „Du hast damit das Leben einiger Menschen gerettet.“

Woher ihr neues Selbstvertrauen nun kommt? Vielleicht ist es ihre neue Rolle als Mutter und die damit einhergehende persönliche Reife. Oder es ist die lange Pause von einem Sport, den sie seit frühester Kindheit mit einer gewissen Besessenheit ausübte, um ihren Eltern ein besseres Leben zu ermöglichen. „Ich habe auch schon früher Auszeiten vom Tennis genommen, aber dieses Mal war es die längste Tennispause meines Lebens. Und ich glaube, das hat mir eine neue Perspektive gegeben: Ich werde nicht ewig Tennis spielen können. Man muss die Jahre, die man noch spielen kann, genießen. Ich möchte ein gutes Vorbild für Shai sein, und ich möchte, dass sie sieht, dass dies ein wichtiges Kapitel in meinem Leben war.“

In ihrem jüngsten Social Media-Statement gibt sich Osaka fast schon selbstironisch. Nachdem sie sich bei ihren Fans für deren Rückhalt und für deren Geduld bei ihrem „Erwachsenwerden“ bedankt, schreibt sie: „Ich weiß, dass ich einige Dinge getan habe, von denen ich wünschte, ich hätte sie anders gehandhabt (lol).“ Und weiter: „Ich fühle mich sehr geehrt, mit euch das zweite Kapitel meiner Tennisreise zu bestreiten. Wir sehen uns im nächsten Jahr.“

Naomi Osaka war noch nie eine gewöhnliche Tennisspielerin. Und wie es aussieht, wird sie das auch niemals werden.